Fussek im Interview: "Heime sind rechtsfreie Räume"

München - Die tz sprach mit dem 61-jährigen Sozialkritiker Claus Fussek über die Missstände, über Kontrollen und die große Macht der Pflegekräfte.
Eine demenzkranke Seniorin wird mit gebrochenem Bein und blauen Flecken in ihrem Bett in einem Garchinger Pflegeheim entdeckt (tz berichtete). Der Fall von Frieda M. (92) sorgt für mächtig Wirbel. Alles deutet darauf hin, dass der Heimbewohnerin durch einen schweren Pflegefehler ihre Verletzungen zugefügt wurden. Auch Pflegeexperte Claus Fussek ist schockiert: „Das zeigt wieder, dass viele Kräfte einfach völlig überfordert sind.“
Seit Jahren kritisiert der Münchner schon die Zustände in vielen Pflegeeinrichtungen. Für sein Engagement bekam er unter anderem das Bundesverdienstkreuz verliehen. Die tz sprach mit dem 61-Jährigen über die Missstände, über Kontrollen und die große Macht der Pflegekräfte.
Herr Fussek, noch ist der Fall mit der verletzten Seniorin im Garchinger Pflegeheim nicht aufgeklärt!
Fussek: Dass so was passieren kann, ist traurig. Dass noch immer niemand weiß, was genau passiert ist, ebenso. Eigentlich lässt sich das ja mit den Dokumentationen leicht nachprüfen. Ich verstehe das nicht.
Vieles deutet darauf hin, dass kein Rechtsmediziner eingesetzt wurde, um die Verletzungen der Frau im Intimbereich zu untersuchen!
Fussek: Da kann man nur den Kopf schütteln. Und es zeigt wieder: Was in den Heimen an Pflegefehlern geschieht, will keiner wirklich wissen.
Nur ein Einzelfall?
Fussek: Das werden wir sicher wieder zu hören bekommen. Und dann wird es zu den Akten gelegt.
Wo liegt der Fehler im System?
Fussek: Die Stationen sind einfach zu schwach besetzt. Wie soll eine Kraft 50 Bewohner versorgen? Das geht nicht. Da passieren Fehler. Mittlerweile beschweren sich sogar die Azubis, dass sie Arbeiten machen müssen, für die sie gar nicht qualifiziert sind. Wahnsinn! Trotzdem ändert sich nichts.
Das klingt so, als gäbe es keine guten Einrichtungen!
Fussek: Das stimmt nicht. Es gibt vorbildliche Pflegeheime. Nur: Die arbeiten immer mit mehr Personal. Zudem mangelt es halt an guten Fachkräften, was die schlechten Häuser noch schlechter macht.
Inwiefern?
Fussek: Na ja, da wird halt mittlerweile jeder eingestellt. Egal, ob er diesen wichtigen und anstrengenden Beruf mit Liebe macht oder nur, weil es halt nichts anderes gibt.
Sie werfen dem Personal oft vor, dass es nichts tut, um die Situation zu ändern!
Fussek: Ja, das muss ich. Ein Beispiel: Jedes Wochenende werden in Bayern Hunderte Heimbewohner in die Krankenhäuser gebracht, weil so manche Einrichtung nicht das Personal hat, sie am Samstag und Sonntag gut zu versorgen. Das ist irre. Da muss sich das Personal wehren. In Bayern gibt es rund 340 000 pflegebedürftige Menschen. Rein theoretisch haben die Pfleger und Pflegerinnen mehr Macht als Lokführer und Piloten zusammen.
Immerhin: Den Fall in Garching hat eine Pflegekraft aufgedeckt!
Fussek: Ja, eine offensichtlich engagierte. Die Heimaufsicht ist nicht draufgekommen. Merkwürdig ...
Funktionieren die Kontrollen?
Fussek: Meiner Meinung nach nicht. Ein Staatsanwalt sagte einmal zu mir: Pflegeheime sind eine Art rechtsfreier Raum, weil es die Gesellschaft nicht interessiert, was dort passiert. Das sehe ich auch so.
Ist das nicht sehr drastisch formuliert?
Fussek: Gegenfrage: Die tz berichtet ja schon seit vielen Jahren über die Missstände. Haben sie schon einmal berichtet, dass ein Heim geschlossen wurde?
Nein, bis auf den einen Extremfall in Inzell vor gut drei Jahren ...
Fussek: Sehen Sie. Das Schlimmste ist fast immer nur ein Aufnahmestopp. Und auch der kommt so gut wie nie vor. Es gibt keine schweren Konsequenzen, egal wie schlecht ein Haus auch ist. Das Geschäft mit den Senioren läuft einfach weiter. Das Leid der Alten kümmert einfach keinen. Und außerdem: Wo sollte man sie denn sonst alle unterbringen?
Armin Geier
VdK klagt für eine bessere Pflege
Die Missstände in der Pflege, das Schweigen der Politiker – es verärgert auch VdK-Präsidentin Ulrike Mascher: „Von einer echten Pflegereform sind wir noch meilenweit entfernt“, schimpfte Mascher am Dienstag bei der Jahresabschlusskonferenz ihres Verbandes. Das sogenannte Pflegestärkungsgesetz biete ab dem 1. Januar lediglich kleine Verbesserungen. „Aber besonders die Situation in den Heimen muss sich schnellstens bessern. So kann es nicht weitergehen!“
Zur Erinnerung: Der Sozialverband VdK hatte im November Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Missstände in Pflegeheimen eingereicht. Wegen der vielen dokumentierten Fälle von Fesselungen an Bett oder Stuhl, der Vergabe von Psychopharmaka und mangelnder Versorgung der Heimbewohner argumentiert der VdK, dass es sich um systembedingte Verletzungen der Menschenwürde handelt. „Wir haben es wahrscheinlich mit den qualitativ und quantitativ größten Menschenrechtsverletzungen zu tun, die wir im Moment in Deutschland haben“, sagte der Regensburger Rechtsprofessor Alexander Graber am Dienstag. Der erfahrene Jurist vertritt den VdK in Karlsruhe.
Die Klage wird von sieben Personen vertreten – darunter ist auch ein demenzkranker Bayer, der in einem Pflegeheim so schlecht versorgt wurde, dass er fast verstarb. Seine Angehörigen entschieden sich in der Folge, den Mann zu Hause zu versorgen.
Allein in Bayern hat sich die Zahl der Heimbewohner nach Zahlen des Verbands seit 1999 um 30 000 Menschen erhöht – von 82 400 auf heute 112 000. Bislang hat das Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden, ob die Klage überhaupt angenommen wird. Unabhängig davon will der VdK aber den Druck „massiv erhöhen“, um Verbesserungen durchzusetzen, wie Landesgeschäftsführer Michael Pausder sagte.
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