Münchner zehn Tage bei IS: "Militärisch nicht zu besiegen"

München - Das hatte noch keiner gewagt! Publizist Jürgen Todenhöfer (74) verbrachte zehn Tage bei der gefürchteten Terrormiliz Islamischer Staat (IS). „Wer seinen Gegner besiegen will, muss ihn kennen“, sagt Todenhöfer, Kenner der arabischen Welt. Der tz berichtet er über seine Eindrücke und die Angst seiner Familie.
Wie hat Ihre Familie zu Ihrem Plan reagiert?
Jürgen Todenhöfer, Publizist: Das Projekt wurde von meiner Familie sieben Monate lang bekämpft. Mein Sohn Frederic hat mich letztendlich begleitet, gegen meinen Willen. Er meinte mich beschützen zu müssen. Und er hat dort gefilmt.
Hatten Sie vom Irak aus Kontakt mit der Familie?
Todenhöfer: Nur ein Mal, am dritten Tag, konnten wir von einem Internetcafé zu Hause melden, dass wir gut angekommen sind. Wir versprachen, uns regelmäßig zu melden, aber von dem Tag an war das nicht mehr möglich, Die Handys hatte man uns abgenommen. Meine Familie war sieben Tage lang ohne Nachricht. Wir sind ja über eine Woche länger geblieben, als wir es uns vorgenommen hatten. Das war für meine Töchter sehr schwierig.
In der Vergangenheit waren Sie im gleichen Hotel wie James Foley, einem Journalisten, der im August vor laufender Kamera enthauptet wurde. Hat Sie dessen Schicksal nicht von Ihrem Plan abgeschreckt?
Todenhöfer: Ich war in Bengasi im gleichen Hotel. Natürlich habe ich das schreckliche, brutale Video gesehen und natürlich war es nach diesem Anblick in den letzten Monaten meine große Sorge und eines meiner Hauptanliegen bei den Verhandlungen sicherzustellen wie ich dies vermeiden kann. Mein Testament hatte ich jedenfalls gemacht.
Wie waren Sie bei den IS-Kämpfern untergebracht?
Todenhöfer: Die Leute wohnen in Rohbauten, in Baracken, in ausgebombten Häusern. Ich habe auf dem Boden geschlafen, wenn ich Glück hatte, auf einer Plastikmatratze.
Sie waren für diese Reise wie ein Rucksacktourist ausgerüstet?
Todenhöfer: Ich hatte einen Koffer, einen Rucksack und einen Schlafsack dabei.
Nun, da Sie den Islamischen Staat von innen kennengelernt haben, was sind Ihre stärksten Eindrücke?
Todenhöfer: Erstens ist dieser IS viel stärker, als wir hier glauben. Er hat inzwischen Ausmaße größer als Großbritannien. Er wird getragen von einer geradezu rauschhaften Begeisterung, die ich noch nie in einem Kriegsgebiet angetroffen habe. Jeden Tag kommen Hunderte willige Kämpfer aus allen Teilen der Welt. Für mich ist das nicht nachvollziehbar!
Schienen die IS-Kämpfer, mit denen Sie lebten und sprachen, einverstanden mit den grausamen Taten, vor allem den Enthauptungen vor laufender Kamera?
Todenhöfer: Die Enthauptungen werden begründet als Strategie, mit der man bei den Feinden Furcht und Schrecken verbreiten wollte. Das habe ja auch funktioniert – siehe die Eroberung von Mossul mit weniger als 400 Kämpfern! Ich habe mit denen gesprochen, die da einmarschiert sind. Die sagen: Wir machen das öffentlich, was Ihr heimlich gemacht hat. Ihr habt im Irak viel mehr Menschen umgebracht!
Was ist das Ziel des IS?
Todenhöfer: Die offizielle Philosophie lautet: Wir sind angetreten, den wahren Islam, der angeblich vor 1400 Jahren gelebt wurde und wie ihn der Koran vorgibt, zu verwirklichen. Dazu plant der IS die größte religiöse Säuberungsaktion der Geschichte! Bis auf drei Religionen sollen alle Religionen ausgelöscht werden. Diese drei sind: natürlich der reine Islam, wie der IS ihn vertritt – das betrifft etwa ein Prozent aller Muslime. Ebenfalls verschont bleiben sollen Juden und Christen. Sie seien Anhänger sogenannter Buchreligionen, haben also vom selben Gott Botschaften bekommen. Moses, Jesus. Mohammed. Alle anderen Religionen, Schiiten, Hindus, Atheisten, Polytheisten sollen ausgemerzt werden. In der arabischen Welt und überall sonst in der Welt sollen Muslime getötet werden, die die Demokratie anerkennen. Sie stellten menschliche Gesetze über göttliche. Diese Antwort habe ich immer bekommen.
Hatten Sie das Gefühl, dass die Bevölkerung von Mossul mit ihrer Lage zufrieden ist?
Todenhöfer: Nach ein paar Tagen in der Stadt kann ich mir darüber kein Urteil anmaßen. In Mossul herrschte nach meinem optischen Eindruck weitgehende „Normalität“. Aber man darf nicht vergessen, dass Tausende Jesiden vertrieben oder getötet worden sind, ebenso Tausende Schiiten. Es gibt nur noch Sunniten. Die Sunniten sind seit dem Angriff der Amerikaner 2005 als Anhänger von Saddam Hussein von den Schiiten diskriminiert gequält worden. Beim Angriff des IS auf Mossul regierte in Bagdad immer noch ein Schiit, deshalb wehrten sich auch die moderaten Sunniten nicht gegen die Übernahme. Der IS ist wohl das kleinere Übel für sie. Er ist inzwischen nicht nur eine Terrororganisation, sondern auch ein zumindest einigermaßen funktionierendes Staatswesen.
Dürfen Mädchen zur Schule gehen?
Todenhöfer: Ja. Der IS baut derzeit ein Schulsystem auf, das aber natürlich nicht unseren Vorstellungen entspricht.
Wie ist der IS entstanden?
Todenhöfer: Ohne den Irak-Krieg von George W. Bush gäbe es den IS nicht. Ich habe 2007 den ersten IS-Kämpfer getroffen, als ich ein Buch über den irakischen Widerstand schrieb. Damals hießen sie Islamischer Staat im Irak.
Sie lehnen die US-Bombardements ab. Wie soll der Westen tun, um den IS aufhalten?
Todenhöfer: Wir haben im Mittleren Osten grundsätzlich nichts zu suchen. Das Problem IS ist militärisch von außen nicht zu lösen. Mossul, das angeblich drei Millionen Einwohner hat, wird wird von circa 5000 Kämpfern beherrscht. Die sind auf die Stadt verteilt. Es fährt auch nie ein erkennbarer Konvoi, wie es die Amerikaner berichten. Ich bin selber mit drei Autos über Tausende von Kilometern gefahren. Da wird mit Tricks gearbeitet, die Sie sich kaum vorstellen können. Wollte der Westen die 5000 IS-Leute ausschalten, müsste man ganz Mossul in Schutt und Asche legen. Mit jeder Bombe, die jetzt abgeworfen wird und die einen Zivilisten trifft, wird die Zahl der Terroristen erhöht.
Es gibt Berichte, dass die Peschmerga vom IS Gebiete zurückerobert haben. Welche Bedeutung hat das?
Todenhöfer: Ich glaube, dass die IS-Kämpfer da Schwierigkeiten haben, wo sie geballt aufgetreten sind. Eigentlich handelt es sich aber um einen Guerillakrieg, da machen einzelne strategische Geländegewinne wenig aus. Worüber nicht berichtet wird, ist etwa, dass sie den Flughafen der großen syrischen Stadt Deirezzor eingenommen haben.
Wie viele IS-Mitglieder gibt es inzwischen?
Todenhöfer: Ich schätze zwischen 30 000 und 40 000. Im irakischen Teil des sogenannten Islamischen Staates sind 70 Prozent Ausländer, im syrischen 30 Prozent.
Sollte der Westen versuchen, mit einem Kalifen oder IS-Führer verhandeln – und worüber?
Todenhöfer: Die einzigen, die das stoppen könnten, wären die gemäßigten irakischen Sunniten – wenn sie in die irakische Gesellschaft wieder integriert würden. Dazu sind aber die Schiiten derzeit nicht bereit. Ich werde den Teufel tun, über Verhandlungen zu sprechen.
Verstehen Sie sich als Vermittler?
Todenhöfer: Wenn Sie einen Gegner besiegen wollen, müssen Sie ihn kennen. Das ist eine alte chinesische Kriegsweisheit. Irgendwann, möglicherweise sogar in überschaubarer Zeit, wird uns der IS über Verhandlungen mit dem Westen Vorschläge machen. Das wird womöglich an der mangelnden Bereitschaft der Politiker im Westen scheitern.
Interview: Barbara Wimmer