„Wir sind nicht rachsüchtig“: Missbrauchsbetroffene in Regensburg fordern mehr Mitsprache in der Kirche

Im Bistum Regensburg kam es jahrzehntelang zum Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Seit 2010 wurde viel aufgearbeitet. Doch den Betroffenen reicht das nicht: Sie fordern Gehör von der Kirche und wollen helfen.
Regensburg - Jahrzehntelanges Schweigen. Jahre, in denen die Betroffenen das Erlebte mit sich selbst aushandeln mussten. Sie wurden als Kinder und Jugendliche im Bistum Regensburg missbraucht – seelisch, körperlich und manche auch sexuell. Doch lange traute sich niemand, offen über diese Taten zu sprechen. „Sie wären wahrscheinlich als irgendein Spinner abgetan worden“, erinnert Josefa Schalk, selbst unter den Missbrauchsopfern. „Der Priester war Gottes Vertreter auf Erden. So etwas durfte nicht vorkommen. Es konnte nicht wahr sein, was nicht sein darf.“ Das hat sich mittlerweile geändert. Doch die Betroffenen wollen dafür sorgen, dass Missbrauch nie wieder in der katholischen Kirche stattfindet.
Schalk und Richard Nusser sind Mitglieder im Betroffenenbeirat Regensburg. Im Interview mit Merkur.de üben sie Kritik am Bistum. Unter anderem, weil es sich nicht von sich aus um weiteren Austausch mit den Betroffenen bemüht. Deshalb gehen sie jetzt selbst auf die Kirche zu, um sich Gehör zu verschaffen.
Betroffene von Missbrauch in Regensburg: „Unheimliche Hemmschwelle, wieder an die Kirche heranzutreten“
„Wenn man‘s negativ formuliert: Die Bischöfe wissen nicht wirklich, was sie mit uns Betroffenen anstellen sollen. Man hat so den Eindruck, sie haben unser Leid anerkannt, sie haben gezahlt, und dann ist auch gut so“, merkt der 70-jährige Nusser an. Auch, um diese Einstellung der Kirche zu ändern, hat sich der Betroffenenbeirat Regensburg im Juli 2022 gegründet. Er besteht aus zehn Mitgliedern, die selbst Missbrauch durch Angehörige der katholischen Kirche erlebt haben: Zwei Frauen und acht Männer. Der jüngste ist 39, der älteste 72 Jahre alt. Seit März hat die Gruppe eine eigene Website und will sich fortan stärker in der Öffentlichkeit präsentieren.
Die Bischöfe wissen nicht wirklich, was sie mit uns Betroffenen anstellen sollen.“
Schalk vertritt den Beirat als Sprecherin, betont jedoch, dass alle Mitglieder gleichberechtigt sind. Und eine weitere Sache ist der 55-Jährigen wichtig: Der Betroffenenbeirat hat eine eigene Geschäftsordnung und agiert deshalb vollkommen unabhängig vom Bistum Regensburg. Damit stellt er auch eine Anlaufstelle für andere Betroffene dar, die sich nicht direkt an das Bistum wenden wollen. „Stellen Sie sich vor, Sie haben in einem kirchlichen Kontext Missbrauch erlebt. Dann besteht eine unheimliche Hemmschwelle, wieder an die Kirche heranzutreten“, erklärt Schalk.
Missbrauch im Bistum Regensburg – ein kurzer historischer Überblick
Im Jahr 2010 trauten sich erstmals Betroffene, öffentlich darüber zu sprechen, dass sie im Bistum Regensburg sexuellen Missbrauch oder Körperverletzung erlebt hatten. Die Vorfälle lagen damals bereits weit zurück, sie ereigneten sich zwischen 1945 und 1995. Schalk betont: Verdachtsfälle habe es immer wieder gegeben, doch wurden diese in der Vergangenheit nicht weiter verfolgt.
Den größten Bekanntheitsgrad erlangten die Missbrauchsfälle im Knabenchor der Regensburger Domspatzen. Zu diesen Fällen hat eine umfassende Aufarbeitung stattgefunden: Das Bistum selbst beauftragte 2015 den Rechtsanwalt Ulrich Weber mit einem unabhängigen Gutachten, der 2017 seinen Abschlussbericht vorlegte. Er sprach darin von insgesamt 547 nachgewiesenen Opfern bei den Domspatzen, die sexuelle oder körperliche Gewalt, teilweise beide Formen, erlebt hatten. Die mutmaßlichen Täterinnen und Täter bezifferte er auf mehr als 50 Personen. 2019 wurden darüber hinaus eine sozialwissenschaftliche und eine geschichtswissenschaftliche Studie veröffentlicht. Bis Ende 2021 zahlte das Bistum Regensburg nach eigenen Angaben mehr als 10,7 Millionen Euro an insgesamt 566 Betroffene. Doch Zahlungen allein machen das Leid eben nicht ungeschehen.
(Lesen Sie auch: Erst im Februar sorgte auch eine Durchsuchung des Münchner Erzbistums im Rahmen des Missbrauchskandals in der katholischen Kirche für Aufsehen.)
„Regensburg braucht eine eigene Studie“: Betroffene fordern weitere Aufarbeitung
„Es gibt aber noch viel mehr Bereiche, wo kirchlicher Missbrauch stattgefunden hat“, sagt Schalk. Sie nennt Kinderheime und sogenannte Kollegien, also Jungeninternate, die eigentlich auf das Priesteramt vorbereiten sollten. Deshalb ist sie sich sicher: Regensburg braucht eine Studie für die Gesamtheit dieser Fälle. Die sogenannte unabhängige Aufarbeitungskommission, in der auch sie und Nusser Mitglied sind, würde gerade „heftig daran arbeiten, die Grundlagen für eine solche Studie herzustellen“, erklärt Nusser. „Und zwar so, dass wir als Betroffene darin vorkommen.“ Missbrauch würde sich immer dort ereignen, wo Macht und Autorität ausgenutzt werden.
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Grundsätzlich loben die beiden die intensive Aufarbeitung der Domspatzen-Fälle in den letzten Jahren. Auch habe der Bischof des Bistums, Rudolf Voderholzer, bisher „in keiner Form versucht“, auf die Arbeit des Beirats Einfluss zu nehmen. „Wir würden uns aber wünschen, dass wir Betroffene stärker in die Aufarbeitung hineingenommen werden“, erklärt Schalk. Nusser führt das weiter aus: „Unsere Aufgabe wäre, denke ich, in der Prävention. Aber ich habe noch nie einen Bischof gehört, der uns Betroffene auffordert und mit uns gemeinsam überlegt, wie wir in der Prävention mithelfen können.“
Kritik an der Kirche: „Die Kernkompetenz sollte eigentlich die Seelsorge sein“
Dieses Anliegen nehmen die Mitglieder des Beirats deshalb selbst in die Hand. Sie gehen ins Priesterseminar, also in die Ausbildungsstätte für angehende Priester, und in die pastorale Fortbildung. Die Kinderschutzbeauftragte des Bistums hätte sehr offen auf ihren Vorschlag reagiert, an solchen Fortbildungen mitzuwirken. „In die Theorie kam durch uns plötzlich Realität. Weil wir echte Geschichten erzählt haben“, so Nusser.
Andererseits wünschen sich Schalk und Nusser mehr Engagement vonseiten der Kirche. Gerade, was die seelische und psychische Begleitung der Betroffenen angeht. „Ein Missbrauchsgeschehen begleitet ein Leben lang“, betont Schalk, „und ich sage nicht, es braucht eine lebenslange Zahlung. Aber die Kernkompetenz der Kirche sollte ja eigentlich die Seelsorge sein. Bei wem hat die Kirche jemals nach Zahlung einer Anerkennungsleistung wieder nachgefragt: Wie geht‘s dir heute? Haben sich neue Probleme ergeben, die du auf den Missbrauch zurückführst?“ Sie vermisst eine eigene seelsorgerische Anlaufstelle für Missbrauchsopfer, wie die Kirche es auch für Senioren, Frauen oder Pfadfinder anbietet.
Bistum Regensburg bezieht Stellung: „Will sich nicht in die Arbeit einmischen“
Auf Anfrage unserer Redaktion, ob Bischof Voderholzer oder ein anderer Amtsträger zu einem Interview bereit wäre, reagiert die Pressestelle des Bistums mit einer schriftlichen Stellungnahme. Das Bistum wolle sich nicht in die Arbeit des Betroffenenbeirats einmischen, da es sich um ein unabhängiges Gremium handle. Es gehe darum, möglichst transparent mit dem Thema Missbrauch umzugehen. Dafür stehe eben der Betroffenenbeirat.
„Bischof Rudolf unterstützt die Aufarbeitung des Missbrauches vollstumfänglich. Wie er jüngst betonte, ist der sexuelle, körperliche und geistige Missbrauch eine Seuche, der das Wasser abgegraben werden müsse“, so die Pressestelle. Auf seiner Website listet das Bistum tabellarisch auf, welche Schritte bereits in der Aufarbeitung unternommen wurden. Auch hat es seit 2012 eine Stelle für Prävention eingerichtet.
Was der Betroffenenbeirat Regensburg in der Kirche bewirken will
Dass Menschen wie Richard Nusser und Josefa Schalk aktiv auf die katholische Kirche zugehen, obwohl sie genau hier als Kinder oder Jugendliche Missbrauch erlebt haben, ist keine Selbstverständlichkeit. „Wir haben Mitglieder im Beirat, die sind noch in der katholischen Kirche. Aber auch Mitglieder, die sind es eben nicht mehr. Weil eben auch das retraumatisierend sein kann“, sagt Schalk. Auch nach Jahren der eigenen Aufarbeitung könnten Betroffene immer noch Flashbacks erleben. Ihr selbst sei das erst kürzlich in einem alten Palazzo passiert. Weil die Dielen genauso geknarrt hätten, das Bohnerwachs genauso gerochen. Es sind kurze Momente, vielleicht nur Geräusche oder Gerüche. Das habe gereicht, um sie in die Situation zurückzuversetzen.
Der Betroffenenbeirat Regensburg
Der Beirat besteht aus zehn Mitgliedern, die selbst Missbrauch im Bistum Regensburg erlebt haben. Weitere Informationen finden sich auch auf seiner Website.
Die Betroffenen organisieren unter anderem kulturelle Veranstaltungen wie Lesungen und Theateraufführungen, um über das Thema Missbrauch aufzuklären – nicht nur im kirchlichen Kontext, sondern auch über Missbrauch in anderen gesellschaftlichen Bereichen.
Dennoch fühlen sie und Nusser sich bereit dazu, anderen Opfern in der Öffentlichkeit eine Stimme zu verleihen: „Wir sind nicht aggressiv, nicht rachsüchtig, sondern wir sind klaren Verstandes. Die Kirche muss lernen“, fordert Nusser. Dort, wo er und die anderen Betroffenen einen Einfluss nehmen können, ergreifen sie diese Möglichkeit auch.
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