Radikalisierung im Gefängnis: Wie die Justiz in Bayern damit umgeht
Immer wieder verüben entlassene Straftäter Terroranschläge. Zuvor haben sie sich im Gefängnis radikalisiert. Eine Fürther Politikwissenschaftlerin will das in Bayern verhindern.
Bayern - Gerade erst aus dem Gefängnis entlassen und schon wieder straffällig? Kein Einzelfall. Ob der Anschlag der Terrormiliz „IS“ in der Wiener Innenstadt 2020, Charlie Hebdo 2015 in Paris oder der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2019. Immer wieder begehen entlassene Straftäter Terroranschläge. Der Grund: Im Gefängnis haben sich viele radikalisiert.
Diese Gefahr will Gülden Hennemann, Politik-und Isamwissenschaftlerin aus Fürth nun abwehren, berichtet der BR. Die 43-Jährige ist die Leiterin der Zentralen Koordinierungsstelle für Maßnahmen gegen Extremismus (ZKE) und der deutschlandweit ersten Operativen Einheit Extremismusbekämpfung im Justizvollzug (OpEEx). Ihr Schwerpunkt: politischer und religiöser Extremismus.
Radikalisierung in bayerischen Gefängnissen: Beamte halten Augen und Ohren offen
„Es geht immer darum, den Menschen zu sehen“, erklärt Gülden Hennemann. „Wer in Haft kommt, ist dort nicht ohne Grund, das muss ganz klar herausgestellt werden. Aber die Straftäter haben oder hatten einen Bruch in ihrem Leben, sehen sich einer gewissen Perspektivlosigkeit ausgesetzt“, weiß die Fürtherin. Schließlich ist ihr Ziel, die Radikalisierung in der Haft zu verhindern.
Dennoch biete die schwierige Vergangenheit der Straftäter guten Nährboden für extreme Weltansichten. Um solch einer Radikalisierung vorzubeugen, braucht Hennemann in allen bayerischen JVAs Augen und Ohren. Neben den Beamten, die tagtäglich mit den Häftlingen in Kontakt stehen, soll es in Bayern künftig auch einen Beauftragten zur Bekämpfung von Extremismus geben. Laut BR sollen das speziell geschulte Polizisten sein, die nicht nur auf den Haftstationen arbeiten, sondern gleichzeitig für Sicherheit im Gefängnis sorgen.
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Extremismus im Gefängnis: Tätowierungen geben erste Anzeigen auf politische Einstellung
In der JVA Nürnberg gint es solch eine „Task Force“ bereits. Leiter Thomas Vogt hat eigens für die Extremismusbekämpfung Fachleute aus seinem Team abgestellt. Deren Aufgabe: Gespräche mit betroffenen Insassen führen und gegebenenfalls den Staatsschutz oder Verfassungsschutz bei den ersten Radikalisierungsanzeichen informieren.
Der Gefangene steht in einer abgetrennten Kabine vor den Bediensteten komplett entkleidet
Ein erstes Indiz seien Tätowierungen. Wer ins Gefängnis kommt, muss nicht nur alle gefährlichen Gegenstände abgeben, sondern sich erstmal auch von seiner privaten Kleidung trennen. Dabei nehmen die Justizvollzugsbeamten den Besitz des Häftlings und dessen Haut genau unter die Lupe. „Der Gefangene steht in einer abgetrennten Kabine vor den Bediensteten komplett entkleidet“, schildert der Extremismusbekämpfungsbeauftragte in der JVA Nürnberg, Manuel Koch, BR24.
Dieser Schritt sei wichtig, denn nicht jeder Tätowierte trage Symbole seiner politsichen Gesinnung an sichtbaren Stellen, sondern zumeist auf der Brust oder dem Oberarm. In Nürnberg gebe es zu einigen Straftätern vorab schon Hinweise der Polizei über möglichen Extremismus. „Das sind dann bekannte Rechtsextremisten, auch aus anderen Nationen, oder etwa Mitglieder von kriminellen Banden, wie den Hell Angels oder der russischen Mafia“, berichtet Koch. Bei Erstinsassen sein das aber nur selten der Fall.
Erkennungsmerkmale extremistischer Häftlinge reichen von Hakenkreuzen über Zahlen- und Buchstabencodes
Deren Erkennungsmerkmale reichen allerdings vom Hakenkreuz über Sterne bis hin zu für die jeweilige Szene eindeutigen Zahlen- und Buchstabencodes, weiß der Justizvollzugsbeamte. Bei arabischen Schriftzeichen, etwa den Symbolen des sogenannten Islamischen Staats, fragt Koch ab und zu bei Gülden Hennemann nach.
In solche einem Fall muss sich der Insasse vor die Linse stellen: Alles wird fotografiert, dokumentiert und dem Verfassungsschutz gemeldet. Aber religiösen Extremismus ist alles andere als leicht zu erkennen.
Bei Gebetsgruppen mit „Vorbeter“ schrillen Alarmglocken der Expertin
Dementsprechend hellhörig wird Hennemann, wenn sich beispielsweise Gebetsgruppen unter den gut 130 muslimischen Häftlingen der JVA Nürnberg bilden und einer den anderen seine möglicherweise radikale Haltung aufdrängt. „Wir haben schon erlebt, dass ein ‚Vorbeter‘ den Mithäftlingen erklärt, wie ‚richtiges Beten‘ geht“, schildert Hennemann. Dann schrillen bei der Expertin die Alarmglocken.
Mit dem selbsternannten Vorbeter suchen die Beamten zügig das Gespräch. „Die Fachleute vor Ort haken nach, wir wollen wissen, mit welcher religiösen Strömung wir es zu tun haben“, berichtet Hennemann. Bestimmte Organisationen stünden dabei besonders im Fokus: Dazu zählen Salafisten, Anhänger von Al-Quaida oder dem IS.
Zellendurchsuchungen in Gefängnissen soll Auskunft über mögliche Radikalisierung geben
Im Gefängnis in Nürnberg stehen Zellendurchsuchungen ebenso auf der Tagesordnung: „Wir inspizieren die Hafteinrichtungen auf gefährliche Gegenstände, eingeschleuste Drogen und auch auf extremistische Hinweise, also Bilder, Symbole, Musik und Bücher“, erklärt der Justizvollzugsbeamte Manuel Koch.

So etwa fanden die Beamten einmal einen Koran in einer Zelle. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches, doch die Ausgabe habe den Dschihad, also das Töten von Ungläubigen, thematisiert, berichtet Koch. In einvernehmlicher Entscheidung zwischen Extremismus-Expertin Hennemann und der Justiz wurde dann entschieden, dass der Häftling sein Exemplar nicht mehr wiederbekommt.
Justizministerium in Bayern alarmiert: Extremismus in Gefängnissen nimmt zu
Die Ausübung der Religion sei von solchen Maßnahmen nicht betroffen. Auch im Gefängnis können Häftlinge ihrem Glauben nachgehen. Dafür gebe es entsprechende Ansprechpartner und Seelsorger, wie aus der islamischen Begegnungsstube Medina in Nürnberg. „Die unterstützen uns dabei, dass eine vernünftige Koranausgabe ausgeteilt wird und nicht eine, die von Salafisten herausgegeben wurde.“
Seit den Anschlägen in Madrid im Jahr 2004, bei denen 193 Menschen starben und mehr als 2000 verletzt wurden, hat das bayerische Justizministerium ein Auge auf den Extremismus in Gefängnissen, schildert der Thomas Vogt. Denn die wachsende Radikalisierung geht auch am Nürnberger Gefängnisleiter nicht spurlos vorbei.
Kategorisierung der Gefangenen bei anfangender Radikalisierung erleichtert Überwachung von Staatsschutz
Sein persönliches Horror-Szenario: Gefangene aus dem religiös-extremistischen Bereich, die über eine Gebetsgruppe in seiner Haftanstalt zusammenfinden – um eine Bombenattacke vorzubereiten. „Dass es irgendetwas geben könnte, was hier in der Anstalt seinen Ursprung hatte, das ist das, was ich mir als Schlimmstes vorstellen könnte“, berichtet Vogt dem BR.
Abhilfe soll da die Kategorisierung der Gefangenen schaffen: Verdacht“, „Zugehörig zu einer Szene“, „Terrorist“ – so werden radikale Insassen eingestuft. Ist es einmal so weit gekommen, stehen JVA-Leiter Thomas Vogt und die Leiterin der Operativen Einheit Extremismusbekämpfung im Justizvollzug, Gülden Hennemann im ständigen Austausch mit den Sicherheitsbehörden.
Justiz in Bayern: Extremistischen Häftlingen soll alternative Perspektive geboten werden
Denn bleiben die Gespräche mit dem betroffenen Insassen fruchtlos, werden Sanktionen und eine Überwachung durch den Staatsschutz oder den Verfassungsschutz eingeleitet. Die gewonnenen Erkenntnisse werden auch im Falle einer Verlegung an die andere Haftanstalt weitergeleitet.
Ziel ist aber vor allem eins: Häftlingen, die möglicherweise bereits auf dem Weg der Radikalisierung sind, eine Perspektive geben. Dazu gehören auch Aussteigerprogramme, die schon in der Haft beginnen, erklärt Hennemann.
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