Dr. Bastian Willenborg, Psychiater und Buchautor, plädierte in einem Interview mit 24vita.de von IPPEN.MEDIA dafür, dass Eltern sich mit der eigenen Kindheit auseinandersetzen, um negative Aspekte der eigenen Erziehung nicht an ihre Kinder weiterzugeben. Seiner Erfahrung nach liegt das Problem in der Erziehung nicht bei den Kindern, sondern bei den Erwachsenen. Würden Sie das so unterstreichen?
Absolut. Leider reagieren wir meist erst dann, wenn die Störung schon da ist und suchen erst dann Hilfe auf, wenn eine Krankheit da ist und wenn es nicht mehr geht. Ich habe zum Beispiel viele Eltern in der Beratung, die sich auch innerhalb der Familie und mit den Kindern erschöpfen, weil sie selbst noch das Kind sind – ohne es zu wissen. Kinder bringen oft unterbewusste Erinnerungen aus der eigenen Kindheit hoch und triggern dadurch innere ungelöste Erfahrungen, die die eigene Hilflosigkeit auslösen. Dann rutschen die Eltern selbst auf die kindliche Ebene und so stehen sich letztendlich zwei Kinder gegenüber und schreien sich an und sind beleidigt.
Ich kann nur Vater und Mutter sein, wenn ich auch auf meine eigenen Kosten komme – und wenn ich in meiner Partnerschaft auf meine Kosten komme – dadurch schöpfe ich Kraft für die Elternschaft. Keine Partnerschaft zu leben, sich selbst links liegenzulassen und dann Elternschaft leben zu wollen – da ist Frustration und Erschöpfung vorprogrammiert. Damit die Kinder auch Kinder sein können, müssen die Erwachsenen die Erwachsenen sein. Wenn ich keinen individuellen Raum habe, wo ich Kraft tanken kann, wo ich für mich Mann oder Frau sein kann, wenn ich selbst noch in unbewussten kindlichen Mustern hänge, wo ich meinen Wert an Funktion knüpfe – wie will ich dann meinen Kindern gesund zur Verfügung stehen?
Sie arbeiten mit Ihren Patienten nach dem Dialog-Prinzip, das sie selbst entwickelt haben. Was bedeutet das?
Das Prinzip beschreibt einen Dialog, dieser bedeutet nicht nur, dass wir miteinander reden. Beim Dialog-Prinzip handelt es sich vielmehr um eine innere Haltung, die man in der Beziehung einnimmt: sich selbst gegenüber, anderen gegenüber, aber auch dem Leben an sich gegenüber. Diese Haltung besteht aus den drei Aspekten der Gleichberechtigung, dem Gleichgewicht zwischen Nehmen und Geben und der Atmosphäre. Gleichberechtigung ist die Anerkennung, dass ich ein Drittel bin, du bist ein Drittel und das andere Drittel besteht aus unserem Wir. Die meisten Beziehungen scheitern, weil man beispielsweise das Ich zum Maßstab macht. Oder man erschöpft sich, weil man sich im Du verliert, indem man sich darüber identifiziert. Viele Familien erschöpfen sich auch, weil sie gar nicht wirklich das Wir definieren können. Denn unser Miteinander braucht z. B. andere Dinge als das Ich oder das Du allein. Gleichberechtigung gilt auch dem Kind gegenüber und die Fähigkeit dazu sollte ihm beigebracht werden.
Der zweite Aspekt ist ein Gleichgewicht zwischen Nehmen und Geben. Würde darauf geachtet werden, so würde Erschöpfung niemals entstehen. Hier ist wesentlich, dass man Dinge in Beruf oder als Hobby tut, bei denen man spürt, dass man mit sich selbst in Berührung und in die Gestaltung kommt und sich nicht nur betäubt. Man kann viel tun, ohne darin vorzukommen. So beschrieb ein Student beispielsweise, dass ein Tag im Bett liegend, Netflix schauend und Pizza essend – alles, was er meinte, wo er auf seine Kosten käme – eher eine Leere hinterließ, als dass es ihn erfüllt hätte. Wir müssen daher lernen, den Unterschied zu erkennen, wo man auf seine Kosten kommt oder wo man nur kompensiert.
Sie hatten bereits erwähnt, dass die Atmosphäre eine entscheidende Rolle spielt. Wie sollte dieser dritte Aspekt Ihres Dialog-Prinzips aussehen?
Zu werden, wer ich bin, braucht Eltern, die erkennen, wer ich bin. Die spüren und schauen, was entspricht mir? Damit dies möglich ist, braucht es die dialogische Atmosphäre, die ich vorhin beschrieb. Interessierte, offene Einfühlsamkeit auf Augenhöhe und Respekt auf Grundlage bedingungsloser Annahme. Wie viel Freiraum braucht es, wo sind die Grenzen. Diese Zuwendung ist ganz zentral. Es sollte ein echtes Interesse gegenüber dem Kind stattfinden. Eltern sollten nicht sich selbst zum Maßstab machen, sondern schauen, wer ist mein Kind. Und nicht, wie will ich es haben. Dabei spielt Empathie eine wichtige Rolle, die Fähigkeit, sich in das Kind hineinzuversetzen. Eltern sollten spüren, wie sich das Kind fühlt, um zu sehen, was hinter den Reaktionen steht. Gerade, wenn sich das Kind noch nicht selbst ausdrücken kann.
Neben Mitgefühl ist zudem die Augenhöhe entscheidend. Es sollte weder eine Idealisierung des Kindes stattfinden, indem es auf den Thron gesetzt wird, noch eine Verniedlichung oder Entwertung. Kinder brauchen Wertschätzung und bedingungslose Liebe und Annahme. Auch der Respekt – die Anerkennung, mein Kind hat Grenzen – vom ersten Moment, wenn es auf der Welt ist – ist zentral für die spätere eigene Beziehungsgestaltung. Diese genannten Aspekte ergeben die Struktur einer gesunden Beziehung, die von Anfang an vermittelt werden muss, um dann auf dieser Grundlage später sowohl zu sich selbst gut Beziehung aufnehmen zu können als auch dann im Außen Beziehungen zu führen. Wenn die Eltern dies vorleben, besteht die Chance, dass die Kinder von heute nicht die erschöpften Erwachsenen von morgen sind.
Sie haben eine eigene Stiftung gegründet. Mit Dialogstark! sprechen Sie vor allem junge Menschen an. Was genau können diese dort lernen?
In der Stiftung Dialogstark! geht es darum, jungen Menschen zwischen 17 und 25 Jahren Dialog-Fähigkeit zu vermitteln. Die Idee ist entstanden, als ich im ersten Semester unterrichtet habe. Dort hatten gerade bei den jungen Erwachsenen psychosomatische und psychische Symptome bereits zugenommen. Sie hatten also teilweise schon am Anfang des Lebens mit Erschöpfung zu kämpfen. Mit der Gründung der Stiftung wollen wir es jungen Menschen rechtzeitig ermöglichen, sich die Frage zu stellen, wie gute Beziehung geht. Was es heißt, ich selbst im Job zu sein und sich selbst zu vertreten. Was es bedeutet, dem Leben in guter Beziehung gegenüberzustehen. Dazu zählt auch der Aufbau von Resilienz und Krisenfähigkeit. Die Stiftung Dialogstark! möchte ein neues Bewusstsein für seelische Gesundheit etablieren, und eine dialogische Haltung in der Gesellschaft, damit wir nicht mehr Erschöpfung, sondern starke, dialogfähige Persönlichkeiten fördern.
Dieser Beitrag beinhaltet lediglich allgemeine Informationen zum jeweiligen Gesundheitsthema und dient damit nicht der Selbstdiagnose, -behandlung oder -medikation. Er ersetzt keinesfalls den Arztbesuch. Individuelle Fragen zu Krankheitsbildern dürfen von unseren RedakteurInnen leider nicht beantwortet werden.