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„Kinder von heute nicht erschöpfte Erwachsene von morgen“: Therapeutin sieht Ursache für Burnout in Erziehung

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Von: Judith Braun

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Dr. Mirriam Prieß
Dr. Mirriam Prieß erkannte in ihrer Arbeit mit Burnout-Patienten, dass die Ursachen für das Leiden nicht in einer zu hohen Arbeitsbelastung oder im Stress liegen, sondern in der Beziehungsfähigkeit. Diese lernen wir normalerweise als Kind im Elternhaus. © Benne Ochs + Imago (Montage)

Wer unter Burnout leidet, sieht die Ursachen meist in einer hohen Arbeitsbelastung und zu viel Stress. Nach den Erkenntnissen von Dr. Mirriam Prieß muss man bei der Spurensuche in der eigenen Biografie jedoch viel weiter zurückgehen.

Immer mehr Menschen fühlen sich dauerhaft erschöpft und ausgebrannt – Tendenz steigend. Wird es krankhaft, dann sprechen Experten von einem sogenannten Burnout. Erschöpfte Patienten fühlen sich meist überfordert, ausgelaugt, antriebslos, müde und niedergeschlagen. Zudem kann sich das Syndrom in einer verminderten Leistungsfähigkeit und einer Entfremdung von der eigenen beruflichen Tätigkeit oder auch von Mitmenschen zeigen. Gehen Betroffene auf Spurensuche, dann landen sie meistens bei Auslösern wie etwa zu viel Stress oder einer hohen Arbeitsbelastung. Nach den Erkenntnissen einer Therapeutin liegen die Ursachen für das Leiden jedoch in der frühen Kindheit.

Dr. Mirriam Prieß (50) ist Ärztin und Therapeutin aus Hamburg. Während ihrer früheren Arbeit in leitender Funktion in einer psychosomatischen Fachklinik erkennt sie, dass die tatsächliche Ursache nicht die Überlastung, sondern fehlende oder gestörte Beziehung ist – und revolutioniert damit die gängige Definition von Burnout. Im Interview mit IPPEN.MEDIA erklärt sie unter anderem, was die eigene Erziehung mit dem Erschöpfungssyndrom zu tun hat und warum sie deshalb einen Elternführerschein fordert.

Sie kommen aus dem Bereich der Psychosomatik für Erwachsene. Sie haben sich viel mit dem Thema Burnout beschäftigt und betroffene Patienten behandelt. Dabei haben Sie festgestellt, dass die Ursachen für das Leiden nicht im Stress oder in der Arbeitsbelastung liegen, sondern vielmehr in unserer Beziehungsfähigkeit.

Das stimmt. Man ist eine Zeit lang davon ausgegangen, dass zu viel Arbeit für Erschöpfung und Burnout verantwortlich ist. Das ist allerdings nicht der Fall. Stattdessen steht der Beziehungsaspekt zentral im Vordergrund. Das zeigte sich dadurch, dass die Patienten entweder konfliktreiche berufliche oder private Beziehungen oder wenige soziale Kontakte hatten. Jeder von ihnen hatte zudem die Beziehung zu sich selbst verloren. Das heißt, dass sie ein Leben geführt haben, das ihnen nicht wirklich entsprochen hat. Sie haben funktioniert und nach einer Vorstellung von sich, wie man zu sein hat, gelebt.

Was genau hat das nun mit der eigenen Erziehung zu tun?

In der Aufarbeitung der Ursachen der Erschöpfung haben sich die Betroffenen mit ihrer eigenen Beziehungsgestaltung auseinandergesetzt. Denn natürlich stellt sich die Frage, was los ist, wenn erwachsene Menschen fernab von sich selbst leben, sich über das Äußere anstatt über sich selbst definieren und in ihren Beziehungen wesentliche Aspekte emotional nicht umsetzen, die sie rational für richtig halten. Beziehung gesund und erfüllt zu leben, ist ein aktiver Gestaltungsprozess. Dazu zählen beispielsweise Gleichberechtigung, Interesse, Offenheit, ein Gleichgewicht zwischen Nehmen und Geben, Begegnung auf Augenhöhe, Empathie, Respekt und Wertschätzung. Auf der Suche nach Antwort schließt sich die Frage an, wo und wie wir eigentlich Beziehung gelernt haben – und wir lernen Beziehung immer in den ersten Jahren.

Bedeutet das, dass Erziehung als Prävention gegen Burnout entscheidend ist?

Entscheidend ist vor allem die Atmosphäre, die im Elternhaus stattfindet. Dabei sind nicht einzelne Situationen zentral, sondern die tagtägliche Beziehungsatmosphäre. Wenn wir zum Beispiel von Anfang an Halt und Geborgenheit in der Familie erfahren haben und Eltern gehabt haben, die sich für uns interessieren. Eltern, die offen dafür sind, wer wir in unserem Wesen sind. Die einfühlsam sind, die uns auf Augenhöhe begegnen, uns respektieren und wertschätzen. Dann handelt es sich dabei um dialogische Beziehungselemente, die wir wie eine Sprache zu sprechen lernen. Wie Eltern mit sich selbst umgehen, wie sie untereinander auch als Paar umgehen, wie sie mit mir direkt unmittelbar als Kind umgehen. Daraus lernen wir, mit uns und mit der Welt in Beziehung zu treten. 

Dabei ist eine Erfahrung zentral für das Kind und ein späteres gesundes Leben: So wie ich bin, bin ich gut. Es ist zwar nicht alles gut, was ich tue, aber ich als Person bin gut! So haben Kinder die Möglichkeit, überhaupt mit sich selbst in Kontakt zu kommen, ein Gefühl für sich selbst und echtes Selbstbewusstsein zu entwickeln und auf dieser Grundlage später auch Beziehungen zu gestalten. In meiner Arbeit mit den Patienten, die sich erschöpft haben, wurde deutlich, dass sie diesen zentralen Aspekt in ihrer Kindheit nicht erfahren haben. Da wurde der Wert zum Beispiel immer an eine Funktion oder eine Bedingung geknüpft.

Wie hat sich das bei Ihren Patienten gezeigt?

Ein Unternehmer sagte zum Beispiel: „Ich bin letztendlich gezeugt worden, weil meine Eltern nicht sicher waren, ob mein Bruder das Unternehmen übernimmt.“ Oder ein anderer Patient sagte: „Von Anfang an habe ich eigentlich nur die Erfahrung gemacht, dass ich anerkannt werde und Liebe bekomme, wenn ich gute Noten nach Hause gebracht habe.“ Eine weitere Frau schilderte: „Ich war eigentlich immer dafür da, dass es meiner Mutter gut ging, weil die Ehe so konfliktbelastet war. Ich habe von Anfang an die Aufgabe gehabt, für Harmonie zu sorgen.“ Den Betroffenen fehlte die bedingungslose Liebe um ihrer selbst willen und damit die Möglichkeit, eine gesunde Beziehung zu sich selbst aufzunehmen und auf dieser Grundlage selbstbewusst und auch frei Beziehung zu gestalten. Eine Konsequenz der fehlenden Beziehung zu sich ist dabei z. B., dass sie sich über das Äußere definieren, über das Tun oder über Leistung. Darüber verlieren sich die Betroffenen, da sie ihre Funktion immer wichtiger als sich selbst nehmen. Ihnen ist es kaum möglich, eigene Grenzen anzuerkennen, weil sie kein Gefühl zu sich selbst haben.

Aufgrund Ihrer Erfahrungen in der Behandlung von Burnout-Patienten fordern sie deshalb auch einen Elternführerschein. Wie kommen Sie darauf?

Der Begriff Elternführerschein ist eigentlich immer wieder in der Arbeit mit erschöpften Eltern entstanden und ein Zitat eines Vaters. Denn in dem Moment, wo sie sich mit sich selbst auseinandergesetzt haben, wurde ihnen deutlich, dass die Muster, die in die eigene Erschöpfung geführt haben, sie unbewusst an den Kindern fortgesetzt haben. „Wenn ich das früher gewusst hätte“, ist dann eine häufige Aussage, “dann hätte ich ganz anders bei meiner Tochter und meinem Sohn gehandelt.“ Ein junger Mann sagte: „Für alles braucht man einen Schein, aber für die Elternschaft, da braucht man nichts. Und dann ist man plötzlich Eltern und man lebt einfach das, was man erfahren hat und hält die eigene Beziehungsgestaltung für völlig normal.“ 

Dabei wäre es für werdende Eltern hilfreich, sich vor dem Anfang der Elternschaft darüber bewusst zu werden, in welchen Beziehungen man selbst aufgewachsen ist. Hier helfen Fragen wie: Lebe ich eigentlich das, was mir entspricht? Bin ich dazu in der Lage, auch Beziehung vorzuleben und mein Kind wirklich darin zu unterstützen, zu werden, wie es tatsächlich ist? Und nicht, wie ich es haben will. Bin ich demnach auch in der Lage, dem Kind den eigenen, echten Wert zu vermitteln? Dies gelingt natürlich nur, wenn man als Elternteil über seinen eigenen Selbstwert verfügt. 

Dr. Bastian Willenborg, Psychiater und Buchautor, plädierte in einem Interview mit 24vita.de von IPPEN.MEDIA dafür, dass Eltern sich mit der eigenen Kindheit auseinandersetzen, um negative Aspekte der eigenen Erziehung nicht an ihre Kinder weiterzugeben. Seiner Erfahrung nach liegt das Problem in der Erziehung nicht bei den Kindern, sondern bei den Erwachsenen. Würden Sie das so unterstreichen?

Absolut. Leider reagieren wir meist erst dann, wenn die Störung schon da ist und suchen erst dann Hilfe auf, wenn eine Krankheit da ist und wenn es nicht mehr geht. Ich habe zum Beispiel viele Eltern in der Beratung, die sich auch innerhalb der Familie und mit den Kindern erschöpfen, weil sie selbst noch das Kind sind – ohne es zu wissen. Kinder bringen oft unterbewusste Erinnerungen aus der eigenen Kindheit hoch und triggern dadurch innere ungelöste Erfahrungen, die die eigene Hilflosigkeit auslösen. Dann rutschen die Eltern selbst auf die kindliche Ebene und so stehen sich letztendlich zwei Kinder gegenüber und schreien sich an und sind beleidigt.

Ich kann nur Vater und Mutter sein, wenn ich auch auf meine eigenen Kosten komme – und wenn ich in meiner Partnerschaft auf meine Kosten komme – dadurch schöpfe ich Kraft für die Elternschaft. Keine Partnerschaft zu leben, sich selbst links liegenzulassen und dann Elternschaft leben zu wollen – da ist Frustration und Erschöpfung vorprogrammiert. Damit die Kinder auch Kinder sein können, müssen die Erwachsenen die Erwachsenen sein. Wenn ich keinen individuellen Raum habe, wo ich Kraft tanken kann, wo ich für mich Mann oder Frau sein kann, wenn ich selbst noch in unbewussten kindlichen Mustern hänge, wo ich meinen Wert an Funktion knüpfe – wie will ich dann meinen Kindern gesund zur Verfügung stehen? 

Dr. Mirriam Prieß
Dr. Mirriam Prieß ist Ärztin, Therapeutin, Unternehmensberaterin und Buchautorin aus Hamburg. Sie ist auf die Themen Burnout, Resilienz und Persönlichkeitsentwicklung spezialisiert. Acht Jahre lang war sie in leitender Funktion in einer psychosomatischen Fachklinik für die Behandlungsschwerpunkte Ängste, Depressionen und Burnout verantwortlich, bevor sie sich der beratenden Tätigkeit in der Wirtschaft zuwandte. Bekanntheit erlangte sie durch ihre Definition von Burnout, dessen tatsächliche Ursache nicht die Überlastung, sondern fehlende oder gestörte Beziehung ist. © Benne Ochs/privat

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Sie arbeiten mit Ihren Patienten nach dem Dialog-Prinzip, das sie selbst entwickelt haben. Was bedeutet das?

Das Prinzip beschreibt einen Dialog, dieser bedeutet nicht nur, dass wir miteinander reden. Beim Dialog-Prinzip handelt es sich vielmehr um eine innere Haltung, die man in der Beziehung einnimmt: sich selbst gegenüber, anderen gegenüber, aber auch dem Leben an sich gegenüber. Diese Haltung besteht aus den drei Aspekten der Gleichberechtigung, dem Gleichgewicht zwischen Nehmen und Geben und der Atmosphäre. Gleichberechtigung ist die Anerkennung, dass ich ein Drittel bin, du bist ein Drittel und das andere Drittel besteht aus unserem Wir. Die meisten Beziehungen scheitern, weil man beispielsweise das Ich zum Maßstab macht. Oder man erschöpft sich, weil man sich im Du verliert, indem man sich darüber identifiziert. Viele Familien erschöpfen sich auch, weil sie gar nicht wirklich das Wir definieren können. Denn unser Miteinander braucht z. B. andere Dinge als das Ich oder das Du allein. Gleichberechtigung gilt auch dem Kind gegenüber und die Fähigkeit dazu sollte ihm beigebracht werden. 

Der zweite Aspekt ist ein Gleichgewicht zwischen Nehmen und Geben. Würde darauf geachtet werden, so würde Erschöpfung niemals entstehen. Hier ist wesentlich, dass man Dinge in Beruf oder als Hobby tut, bei denen man spürt, dass man mit sich selbst in Berührung und in die Gestaltung kommt und sich nicht nur betäubt. Man kann viel tun, ohne darin vorzukommen. So beschrieb ein Student beispielsweise, dass ein Tag im Bett liegend, Netflix schauend und Pizza essend – alles, was er meinte, wo er auf seine Kosten käme – eher eine Leere hinterließ, als dass es ihn erfüllt hätte. Wir müssen daher lernen, den Unterschied zu erkennen, wo man auf seine Kosten kommt oder wo man nur kompensiert.

Sie hatten bereits erwähnt, dass die Atmosphäre eine entscheidende Rolle spielt. Wie sollte dieser dritte Aspekt Ihres Dialog-Prinzips aussehen?

Zu werden, wer ich bin, braucht Eltern, die erkennen, wer ich bin. Die spüren und schauen, was entspricht mir? Damit dies möglich ist, braucht es die dialogische Atmosphäre, die ich vorhin beschrieb. Interessierte, offene Einfühlsamkeit auf Augenhöhe und Respekt auf Grundlage bedingungsloser Annahme. Wie viel Freiraum braucht es, wo sind die Grenzen. Diese Zuwendung ist ganz zentral. Es sollte ein echtes Interesse gegenüber dem Kind stattfinden. Eltern sollten nicht sich selbst zum Maßstab machen, sondern schauen, wer ist mein Kind. Und nicht, wie will ich es haben. Dabei spielt Empathie eine wichtige Rolle, die Fähigkeit, sich in das Kind hineinzuversetzen. Eltern sollten spüren, wie sich das Kind fühlt, um zu sehen, was hinter den Reaktionen steht. Gerade, wenn sich das Kind noch nicht selbst ausdrücken kann. 

Neben Mitgefühl ist zudem die Augenhöhe entscheidend. Es sollte weder eine Idealisierung des Kindes stattfinden, indem es auf den Thron gesetzt wird, noch eine Verniedlichung oder Entwertung. Kinder brauchen Wertschätzung und bedingungslose Liebe und Annahme. Auch der Respekt – die Anerkennung, mein Kind hat Grenzen – vom ersten Moment, wenn es auf der Welt ist – ist zentral für die spätere eigene Beziehungsgestaltung. Diese genannten Aspekte ergeben die Struktur einer gesunden Beziehung, die von Anfang an vermittelt werden muss, um dann auf dieser Grundlage später sowohl zu sich selbst gut Beziehung aufnehmen zu können als auch dann im Außen Beziehungen zu führen. Wenn die Eltern dies vorleben, besteht die Chance, dass die Kinder von heute nicht die erschöpften Erwachsenen von morgen sind.

Sie haben eine eigene Stiftung gegründet. Mit Dialogstark! sprechen Sie vor allem junge Menschen an. Was genau können diese dort lernen?

In der Stiftung Dialogstark! geht es darum, jungen Menschen zwischen 17 und 25 Jahren Dialog-Fähigkeit zu vermitteln. Die Idee ist entstanden, als ich im ersten Semester unterrichtet habe. Dort hatten gerade bei den jungen Erwachsenen psychosomatische und psychische Symptome bereits zugenommen. Sie hatten also teilweise schon am Anfang des Lebens mit Erschöpfung zu kämpfen. Mit der Gründung der Stiftung wollen wir es jungen Menschen rechtzeitig ermöglichen, sich die Frage zu stellen, wie gute Beziehung geht. Was es heißt, ich selbst im Job zu sein und sich selbst zu vertreten. Was es bedeutet, dem Leben in guter Beziehung gegenüberzustehen. Dazu zählt auch der Aufbau von Resilienz und Krisenfähigkeit. Die Stiftung Dialogstark! möchte ein neues Bewusstsein für seelische Gesundheit etablieren, und eine dialogische Haltung in der Gesellschaft, damit wir nicht mehr Erschöpfung, sondern starke, dialogfähige Persönlichkeiten fördern.

Dieser Beitrag beinhaltet lediglich allgemeine Informationen zum jeweiligen Gesundheitsthema und dient damit nicht der Selbstdiagnose, -behandlung oder -medikation. Er ersetzt keinesfalls den Arztbesuch. Individuelle Fragen zu Krankheitsbildern dürfen von unseren RedakteurInnen leider nicht beantwortet werden.

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