Frühlingsanfang in der Kunsthalle München!

Die britische Künstlerin Rebecca Louise Law weckt in der Kunsthalle München Frühlingsgefühle. Mit ihrer fantastischen Blumen-Installation „Calyx“.
Man würde ja zurzeit am liebsten morgens einfach liegen bleiben. Fensterläden zu und Winterschlaf. Soll der kalte Wind doch noch so sehr ums Haus wirbeln – wegen akuter Müdigkeit bis Frühling geschlossen. Natürlich kommen dann so Schlaumeier wie Chefs ums Eck und erinnern einen daran, dass der moderne Mensch wintertags genauso produktiv wie sommertags zu sein hat. Wer also jetzt gesenkten Hauptes zur nächsten Apotheke schlurft, um eine Palette Vitamin-D-Kapseln zu kaufen, der biege auf dem Weg dorthin bei der Kunsthalle München ab. Und hebe das traurige Köpfchen, öffne die vor Tränensäcken schweren Äuglein und frohlocke: Der Frühling ist ausgebrochen!
Die britische Künstlerin Rebecca Louise Law hat Göttin Flora gespielt und uns beschenkt. Mit einer Installation aus rund 150 000 Blüten. „Calyx“, zu Deutsch: Blütenkelch, heißt das Werk, das jetzt im letzten Ausstellungsraum der neuen Schau „Flowers forever“ in der Kunsthalle München zum Eintauchen verführt. Und wie ein umgekehrter Blumenkelch sehen sie tatsächlich aus, die farbenprächtigen Stränge, die von der Decke hängen.

Wie jede Göttin hatte Rebecca Louise Law, deren Herkunft Wales man ihr aufs Schönste anhört, gute Geister, die ihr halfen. Im März 2022 startete die Kunsthalle einen Aufruf an alle Bürgerinnen und Bürger Münchens und Bayerns, Blüten zu sammeln, zu trocknen und in der Ausstellungshalle abzugeben. Man darf sagen: Sie nahmen die Sache ernst. Sämtliche 150 000 Blüten, aus denen „Calyx“ besteht, kommen aus Bayern.
Wenn man die 1980 geborene Künstlerin, die schon in Griechenland, den USA, London, Italien derlei blühende Kunstwerke aus dortigen Pflanzen geschaffen hat, fragt, wie die sich von denen aus Bayern unterscheiden, spricht sie mit sanfter Stimme zwar erst von der Vielfältigkeit der bayerischen Ernte, kommt dann aber bald zu einer viel interessanteren Beobachtung. Die besagten guten Geister, die ihr halfen, waren ja nicht nur die Blüten-Sammler. Sondern auch rund 150 Freiwillige, die ab Herbst regelmäßig in die Kunsthalle kamen, um die gesammelten Schätze nach Farben und Größen zu sortieren, schließlich unter Anleitung von Law an Kupferdrähten zu befestigen, Stränge von je einer Armlänge, und dann zu verpacken. Rund 191 Kartons voll bayerischer Blütenpracht. Als die Britin jedenfalls zum ersten Treffen mit diesen engagierten Bastlern kam, stellte sie irritiert fest: Das sind ja fast alles Frauen. „Das kenne ich so gar nicht“, erzählt sie lachend. „Hier in München war es das erste Mal, dass wir rund 150 Frauen und bloß eine Handvoll Männer unter den Helfern hatten. Aber fragen Sie mich jetzt nicht, woran das liegen könnte.“

An ihr gewiss nicht. Die Künstlerin, die von sich selbst behauptet, ungeduldig zu sein, bei der Arbeit aber so geduldig wirkt wie ein blumenvernarrter Buddha, strahlt eine ebensolche Ruhe aus. Vielleicht, weil sie so etwas wie Winterblues gar nicht kennen kann: Sie riecht und fühlt täglich alle vier Jahreszeiten. Wer „Calyx“ durchschreitet, tut es ihr nach. Denn gesammelt wurde in Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Ein getrocknetes Potpourri aus Hyazinthe, Krokus, Distel, aus Trommelstöckchen, Weizen, Hortensie, aus Vogelbeere, Physalis, Hopfen – und immer wieder Rose. Je weiter man sich in das Innere des umgekehrten Kelchs bewegt, desto üppiger werden die Stränge, desto dichter der hängende Garten. Ist man schließlich völlig umrahmt von Pflanzen, versteht man, was Law damit meint, wenn sie sagt, dass die Blumen ihre Farbe, der Raum ihre Leinwand sei. Schon während ihres Kunststudiums in Newcastle wollte sie „in der Luft malen“. Erinnerte sich an die große Trockenblumensammlung ihres Vaters, einem Gärtner, und fand endlich ihre natürliche Farbpalette. Seit 2003 begeistert sie überall auf der Welt mit neuen Kreationen, lagert Millionen von Blüten in mehreren Depots. Auch die bayerischen Pflanzen werden darin nach Ausstellungsende aufgenommen. Und damit immer wieder Teil neuer Kunstwerke. Sie werden nicht nur München überdauern – „sondern auch mich“, sagt die Künstlerin. Getrocknete Blumen können, vor UV-Strahlen geschützt und trocken gelagert, Jahrhunderte überstehen. „Und selbst wenn ich die Boxen meiner Sammlung nach zehn oder 20 Jahren öffne, rieche ich noch immer einen leichten Duft.“
Die Welt wird schöner mit jedem Tag
Vielleicht wirkt die Installation deshalb so stark auf die Betrachter. Weil der Duft auf einer zweiten sinnlichen Ebene berührt. Erinnerungen weckt. An die alten Stroh-Weihnachtssterne in der elterlichen Christbaumschmuck-Kiste oder das rosige Parfum, von dem die Musiklehrerin immer einen Tacken zu viel aufgetragen hatte. Augen schließen, tief einatmen, Veilchen-gleich träumen. Mag’s da draußen auch fies kalt und grau und windig sein, dieses Werk versichert uns: Die Welt wird schöner mit jedem Tag. „Nun, armes Herz, vergiss die Qual/ Nun muss sich alles, alles wenden.“ Bis 27. August 2023 in der Kunsthalle München; tägl. 10-20 Uhr. Der Katalog ist bei Prestel erschienen, 288 Seiten; 45 Euro.