1. tz
  2. München
  3. Kultur

Interview mit Igor Levit: „Wo sind die Demos gegen Faschisten?“

Kommentare

Igor Levit
„Wenn ich ein Werk interpretieren will, dann spielen für mich Bekanntheit oder Schwierigkeit keinerlei Rolle“, sagt Igor Levit (36). © Felix Broede

Auch wenn er längst nicht mehr twittert: Stiller ist Igor Levit deshalb nicht geworden, im Gegenteil. Den 36-jährigen Pianisten treibt vieles um. Zum Beispiel die hohen Zustimmungswerte für faschistische Parteien, das deutsche Phlegma oder die gefährdete Rolle der Kultur. Eine Begegnung in Salzburg.

Sie haben gerade unter dem 80-jährigen Daniel Barenboim gespielt, dann unter dem 42-jährigen Jakub Hruša, jetzt werden Sie es in München unter dem 34-jährigen Lahav Shani tun. Gibt es jedes Mal einen anderen Igor Levit?

Natürlich nicht. Aber selbstverständlich gab es ein anderes Grundgefühl in den eineinhalb Wochen mit Daniel Barenboim. Diese Zeit ging „voll aufs Lebenskonto“, wie eine sehr enge Freundin es immer formuliert. Er ist ein Musiker, der in seinem Leben enorm viel gleichzeitig auf allerhöchstem Niveau getan hat. Dafür gibt es keinen Vergleich. Er ist der eine Musiker, mit dem ich spielen wollte. Dann wurde er sehr krank – umso begeisterter war ich, als vor einigen Wochen der Anruf kam. Er ist mein Idol.

Auch was das Außermusikalische betrifft?

Einfach alles. Er hat das gesamte Repertoire, Klavier und Sinfonik, Oper und Kammermusik, gespielt und dirigiert, er hat mit Edward Said eine Akademie gegründet, ein einzigartiges Orchester zum Leben erweckt, das West-Eastern Divan Orchestra. Er hat sich wie kaum ein anderer klassischer Musiker im Nahost-Konflikt positioniert, er hat sich dem Humanismus verschrieben. Er hat immer die menschlichen Seiten des Konfliktes betrachtet, und zwar alle. Er hat versucht, Brücken zu bauen, anstatt Mauern hochzuziehen. All das und vieles mehr macht ihn für mich zu meinem Idol.

Barenboim ist jemand, den man immer zu allem fragen möchte. Bei Ihnen ist es ähnlich. Man wird als künstlerisch-moralische Instanz betrachtet. Irgendwann fühlt man sich doch in die Enge getrieben oder überfordert.

Ich habe vor einigen Jahren die Entscheidung getroffen, mich auch außermusikalisch zu äußern und zu handeln. Mich gegen Rassisten und Menschenhasser zu stellen, sehe ich als die wichtigste Aufgabe in meinem Leben.

Wolfgang Sawallisch, dessen Geburtstag sich kürzlich zum 100. Mal jährte, meinte einmal: Vor eine erneute Lebensentscheidung gestellt, hätte er wieder Dirigent werden wollen – aber bitte ohne allen außermusikalischen Kram inklusive administrativer Arbeit.

Das ist interessant, weil es sich bei mir gerade umgekehrt verhält. Natürlich will ich immer mehr Musik machen, aber auch das Administrative macht mir immer mehr Spaß. Die Tatsache, dass ich mittlerweile nach einer langen musikalisch künstlerischen Verbindung zum Heidelberger Frühling mit dem Intendanten Thorsten Schmidt über künstlerische Fragen, Strategien und Programme entscheiden kann, erfüllt mich von Tag zu Tag mit mehr Freude. Dass ich daran mitwirken kann, anderen eine Bühne zu bieten, ist gerade für mich das Schönste.

Welche Rolle hat die Corona-Zeit bei diesen Entscheidungen für andere Aufgaben gespielt?

Eine große. Die Pandemie hat für mein Selbstbewusstsein und Selbstverständnis eine enorme Rolle gespielt. Ich habe zum Beispiel erstmals in meinem Leben eine eigene Produktion auf die Beine gestellt: einen 16-stündigen Livestream von Eric Saties „Vexations“. Mein Team und ich haben uns um jede Kleinigkeit – Finanzierung, Studio, Mieten, Instrument, Kamerateam, Vertriebspartner etc. – selbst gekümmert. Auch Thorsten Schmidt und ich haben uns in dieser Zeit unendlich lang über den Konzertbetrieb unterhalten, über Programme, über künstlerische und organisatorische Perspektiven. Ich gehe, seitdem es wieder geht, viel in Konzerte, das war früher fast nie der Fall. Ich höre mittlerweile mit dem Künstler- und dem Veranstalter-Ohr zu.

Das Publikum kommt nach Corona zurück. Auch weil die Musik zum Eskapismus benötigt wird, also einen Fluchtweg bietet aus dem immer tieferen Problemsumpf?

Ich habe Musik nie als Eskapismus begriffen. Und die Corona-Zeit hat auch gezeigt, wie essenziell für viele, viele Menschen Musik wirklich ist. Mein Hauptfokus beim Gestalten ist: Welche Einladung spreche ich an das Publikum aus? Wieso sollen die Menschen in Konzerte gehen? Darauf suche ich täglich nach Antworten – höchste künstlerische Qualität ist dabei sowieso selbstverständlich.

Aber Corona hat auch gezeigt, zumindest aus Sicht der politischen Entscheidungsträger, wo die Kultur letztlich steht: ganz weit an der Seitenlinie.

So ist es. Gleichzeitig ist sie mittendrin! Kulturinstitutionen wurden als Erstes geschlossen à la „Ist uns doch egal“. Gleichzeitig werden unendlich viele, teils schlimme Debatten, häufig auf Grundlage kultureller Fragen geführt. Ein Beispiel: Politik schmückt sich immer gerne mit Kultur. Gleichzeitig rücken einige Ministerpräsidenten mit ihren Einlassungen zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk immer dichter an die AfD. Da geht es ums Eingemachte für diejenigen, die Kultur wirklich noch hochhalten. Das macht mir Sorge und ist eigentlich die viel wichtigere Debatte als die, ob eine einzelne Literatursendung im Radio oder im Netz stattfindet. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist, bei aller berechtigten Kritik, ein zentrales Element unseres demokratischen Hauses.

Müssen also die Künstler noch mehr die Klappe aufmachen?

Tun wir doch schon. Aber ich will mich hier auch in Selbstkritik üben: Ich habe mich in den letzten Jahren immer wieder öffentlich zu politischen und gesellschaftlichen Fragen geäußert und mich klar positioniert. Gegen Menschenhass und deren Verursacher. Und was ist die Realität heute? 21 Prozent der Deutschen wollen Faschisten wählen. Also müssen wir irgendetwas falsch gemacht haben. Wir haben zu viele Menschen ganz offensichtlich nicht erreicht. Ich stimme mit dem Salzburger Festspielintendanten Markus Hinterhäuser vollkommen überein, der vor „Empörungsritualen“ warnt. Die Auseinandersetzung zum Beispiel mit der AfD muss eine andere werden. Wenn Sie so wollen, eine erwachsenere. Abgesehen davon setzt ein fataler Gewöhnungsprozess ein. Nach der Bundestagswahl 2017, als die AfD über 13 Prozent bekam, stand ich auf dem Berliner Alexanderplatz und habe mitgerufen „Wir sind die 87 Prozent“. Heute sind wir laut Umfragen die 79 Prozent. Gibt es überhaupt eine Demo dagegen, dass 21 Prozent der Deutschen Faschisten wählen wollen? In Israel zum Beispiel stehen Hunderttausende wöchentlich auf der Straße und demonstrieren für Rechtsstaat und Demokratie – das wären in Deutschland umgerechnet über zwei Millionen. Wo sind sie? Deshalb habe ich immer weniger Lust darüber zu reden, ob wir Künstler, wie Sie es hier formulieren „die Klappe aufmachen müssen“ – in einem Land, das in seinem Phlegma so viel toleriert.

Zurück zur Kunst: Spielen Sie eigentlich anders, seitdem Sie unterrichten?

Nein. Ich unterrichte unglaublich gern. Aber ich sage den Studenten nie, was sie machen sollen. Ich will wissen, was sie tun möchten, und dabei helfe ich ihnen. Irgendwann kommt so jemand wie Lukas Sternath (2022 erster Preis beim ARD-Wettbewerb, die Red.), und dann denke ich mir: Genau dafür mach’ ich’s. Das ist ein Geschenk.

Die Sängerin Waltraud Meier meinte einmal, es gebe verschiedene Karrierephasen. Das Hochschießen, das Bewegen auf einem hohen Plateau, das Behauptenmüssen gegenüber dem Nachwuchs und das Abklingen. Stichwort Lukas Sternath: Müssen Sie sich schon gegenüber dem Nachwuchs behaupten?

Ich spüre so etwas auch schon. Aber behaupten müssen? Je mehr wunderbare Kollegen es gibt, desto glücklicher macht es mich. Ich habe Lukas Sternath vor fünf Jahren kennengelernt. Schon damals war er herausragend. Irgendwann kam der Moment, an dem ich dachte, ihm seine Grenzen aufzeigen zu müssen und meinte: „Lerne mal Beethovens Hammerklavier-Sonate. Damit wirst du erst mal gegen die Wand fahren, so wie es mir damals passiert ist.“ Sein erster geplanter Auftritt mit dem Stück war gleich im Wiener Musikverein. Einige Zeit vorher geriet Lukas in Panik. Ich beruhigte ihn und sagte, das sei völlig normal. Wenn er es nicht rechtzeitig schaffe, könne man das Programm jederzeit ändern. „Lerne die Sonate ohne Termindruck, sondern lerne sie einfach“, sagte ich. Einige Wochen später kam er zu mir, setzte sich hin und legte mir die Hammerklavier-Sonate mit einer solchen Überlegenheit hin, mit einem solchen strukturellen und musikalischen Überblick – das war phänomenal. Das Konzert im Musikverein wurde zu einer Sternstunde. Und ich habe natürlich Vergleiche zu meinen Anfängen gezogen.

Muss man sich in einer solchen Situation also doch neu definieren oder positionieren?

Ich würde es definieren nennen. Lukas ist mein Student, mein Kollege und mein Freund. Und wenn er hier in Salzburg bei mir im Konzert sitzt, beeindruckt und freut mich das.

Am 27. September gibt es das nächste Doppelalbum. Irgendwie glauben Sie noch an das Medium. Haben Sie eigentlich den großen CD-Plan, wann Sie was aufnehmen möchten?

Die nächsten zwei, drei Jahre sind klar. Und den Plan, die Liszt-Sonate und Ferruccio Busonis Fantasia contrappuntistica aufzunehmen, verfolge ich schon seit einigen Jahren. Aber es klappte bisher weder zeitlich, noch habe ich mich den Werken wirklich gewachsen gefühlt. Das braucht Zeit, manchmal Jahre. Wenn es mir jedoch an einem nicht fehlt, dann am langen Atem. Wenn ich ein Werk interpretieren will, dann spielen für mich Bekanntheit oder Schwierigkeit keinerlei Rolle. Und wenn es so wie jetzt, Jahre der Vorbereitung braucht.

Das Gespräch führte Markus Thiel.

Konzert am 9. September mit dem Israel Philharmonic Orchestra unter Lahav Shani in der Münchner Isarphilharmonie.
Das Doppel-Album „Fantasia“ erscheint am 27. September.

Auch interessant

Kommentare