1. tz
  2. München
  3. Kultur

Einer der letzten übergriffigen Dinos: John Eliot Gardiner

Kommentare

John Eliot Gardiner
Nachdem er einen Bassisten geschlagen hatte, sagte John Eliot Gardiner vorerst alle Konzerte ab. © Marcus Schlaf

Der übergriffige John Eliot Gardiner steht in einer Tradition, die bis zu Arturo Toscanini zurückreicht. Es gibt noch einige dieser Dinos - die sich in ihrem Verhalten damit von prominenten Altersgenossen unterscheiden.

Die schlimmsten Ausfälle sind sogar als Aufzeichnung dokumentiert und nachhörbar auf Youtube. „Maultierkopf!“ – „Sie haben keine Ohren und Augen!“ – „Ich möchte jedem von Ihnen in den Hintern treten!“ Arturo Toscanini schreit nicht, er tobt. Um ihn herum Totenstille. Eine Atmosphäre der Angst. Und ein banges Warten aufs Ende des Hurrikans. Was uns heute amüsiert, war bei dem 1867 geborenen Dirigenten Tagesgeschäft. Die Anrede „Maestro“ war bei ihm mehr als wörtlich gemeint: nicht nur als Verbeugung, sondern als bedingungslose Unterwerfung, Demütigungen und Diskriminierungen inklusive.

Seit den Tagen Toscaninis mag sich vieles geändert haben. Doch der Begriff „Orchesterrepublik“ bleibt ein Ideal, das nicht überall realisiert wurde, gerade weil Musikmachen im Kollektiv Entscheidungen erfordert. Ein System, in dem die Hierarchie quasi zur Kunstausübung gehört, in dem Hören und Gehorchen zwei Seiten einer Medaille sind – und das Grenzübertritte dadurch begünstigt. Im gravierendsten Fall gehören Orchester neben Nordkorea und Russland noch immer zu den letzten Diktaturen der Welt.

Je höher die Abhängigkeiten und je größer dabei die Egomanie des Dirigenten, umso katastrophaler die Auswüchse, das hat gerade die Affäre um Sir John Eliot Gardiner gezeigt. Wie berichtet, hat der 80-Jährige einen Sänger geschlagen und nach einer Entschuldigung vorerst sämtliche Konzerte mit seinem Monteverdi Choir und dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique abgesagt.

Gardiner wird schon lange ein verletzendes Verhalten nachgesagt

Gardiner wird allgemein ein arrogantes, zynisches bis verletzendes Verhalten nachgesagt. Immer wieder, so heißt es, stelle er Musizierende vor allen anderen bloß. In seinen eigenen Ensembles, die sich alle aus freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern zusammensetzen, herrschen naturgemäß noch größere Abhängigkeiten: Die Bezahlung in der Barockszene ist schlechter als in den klassischen Symphonieorchestern. Wer beim renommierten Gardiner heftig akklamierte Konzerte spielt, muss also froh darum sein – und hält im Zweifelsfall lieber den Mund, was das Gebaren des Chefs betrifft.

Gardiner ist damit einer der Letzten einer ganz alten, üblen Dirigentenschule. Ein in seinem Selbstbewusstsein auch rücksichtsloser Dirigent, ein Dino. Doch er ist nicht allein – auch wenn das Gros der Pultstars längst kollegiale, respektvolle Umgangsformen pflegt. Auch Daniel Barenboim warf man immer wieder Machtmissbrauch vor – und sogar körperliche Übergriffe. Laura Eisen, bis Juli 2019 Orchestermanagerin der Berliner Staatsoper, sorgte mit ihrem Fall für Schlagzeilen. Barenboim habe sie im März 2018 in ihrer Garderobe angeschrien, am Hals gepackt und geschüttelt, gab sie gegenüber dem „Van“-Magazin an. An der Oper wurde sogar eine Art Schiedsstelle eingerichtet. Barenboim räumte später das Schreien ein. Eine Berührung hat es laut seiner Darstellung aber nicht gegeben.

Seit Jahren steht Daniel Barenboim in der Kritik

Der Posaunist Martin Reinhardt sagte, er habe unter Barenboim „über viele Jahre Schlimmstes durchmachen müssen, und gesundheitliche Schäden wie Depressionen und Bluthochdruck waren die Folgen daraus“. Reinhardt kündigte 2015 seine feste Stelle an der Staatsoper. Ähnliches berichten auch andere Musiker. Aus Barenboims West-Eastern Divan Orchestra kursieren Geschichten, die nicht zitierfähig sind. Dass er mit alledem lange Jahre durchkam, dokumentiert, wie unangefochten besonders seine Berliner Position zumindest war. Letztlich hat er das Bestehen der Staatsoper gesichert – Kritik an seiner Person wurde daher nur hinter vorgehaltener Hand geäußert.

Eine direkte Parallele gibt es hier zu Gardiner, über den viele ähnliche Geschichten kursieren. Doch war er gleichsam geschützt durch die Qualität seiner Konzerte. Bei Bach, Beethoven oder Monteverdi gilt er als konkurrenzlos. Wer mit ihm diese Aufführungen erarbeitet, wagt sich daher nicht aus der Deckung. Oder zieht seine Konsequenzen: Die Liste der Musizierenden, die nicht mehr mit Gardiner arbeiten wollen, ist lang.

Dabei gibt es genügend Gegenbeispiele. Dirigenten, die ebenfalls in eine Zeit der unumschränkt herrschenden Maestri hineingeboren wurden und trotzdem anders handelten. Der 2019 gestorbene Mariss Jansons etwa, wie Gardiner Jahrgang 1943. Auch Jansons war ein äußerst hierarchisch denkender Mensch. Er forderte Respekt, hatte aber seinerseits Respekt vor dem Können der Musikerinnen und Musiker. Und er wusste: Mit Angst lassen sich keine Hochleistungen erzielen.

Ganz alte Schule: Es geht aber auch anders

Ein Antipode zu Gardiner, Barenboim & Co. war ebenfalls Nikolaus Harnoncourt (1929-2016) – wohl, weil er selbst als Cellist jahrelang in einem Orchester spielte. Für Harnoncourt war klar, nicht zuletzt mit seinen peniblen Angaben in den Orchesternoten, dass er über die Interpretation entschied. Dennoch gab er sich offen für Alternativen – sofern sie ausreichend begründet waren.

Einer der Letzten der alten Schule ist Riccardo Muti, Jahrgang 1941. Er ist gefürchtet, Widerspruch duldet er kaum. Regisseure müssen schon mal ihre Inszenierungen umbauen, wenn er zu den Endproben kommt. Und doch verschafft sich Muti Respekt durch seine Werkkenntnis und durch sein Handwerk – Übergriffe à la Gardiner oder Barenboim sind von ihm nicht bekannt.

Was bedeutet: Selbst die Dinos der Szene haben begriffen, dass Hierarchie nicht mit diktatorischem Handeln aufrechterhalten werden kann. Was in Wirtschaftsbetrieben also längst praktiziert (oder zumindest propagiert) wird, hat sich allmählich auch im Kulturleben durchgesetzt. Die wenigen Ausnahmen haben dann eben Konsequenzen zu akzeptieren. Oder wie es ein Musiker des BR-Symphonieorchesters ausdrückt, bei dem Gardiner regelmäßig gastiert: „Die Orchester müssen einfach stark sein und bestimmte Künstler nicht mehr engagieren – so groß und prestigeträchtig deren Name auch sein mag.“

Auch interessant

Kommentare