Völlig losgelöst: „Juditha triumphans“ bei den Innsbrucker Festwochen

Es ist der musikalische Höhepunkt der Innsbrucker Festwochen der Alten Musik: Zum Abschied schenkt Alessandro De Marchi sich und dem Publikum Vivaldis „Juditha triumphans“ - in einer herausragenden Besetzung.
Eine dieser Liebes-Arien mehr, und die Sache wäre vielleicht anders ausgegangen. Mit Kuss plus Körperlichkeit und mutmaßlichem Nachwuchs. Denn so einfach ist es nicht mit Schuld und Unschuld in Antonio Vivaldis „Juditha triumphans“: Hier die rächende, ihr Volk verteidigende Titelheldin, dort der böse Besatzer Holofernes, dem sie gerechterweise das Haupt abschlägt – das mag Bibel-Schwarz-Weiß sein, wird in diesem Fall aber aufgelöst in ein Spektrum schier unendlich vieler Zwischentöne. Das ist schon nicht mehr Barock, sondern fast schon Mozart.
Mit dem (lateinischen) Text hat das zu tun, besonders aber mit der Komposition: weil Vivaldi für ein Orchester schreibt, mit vier Theorben, dem Klarinetten-Vorläufer Chalumeau, Mandoline, Pauken, Trompeten etc. pp., das in seiner Üppigkeit seinesgleichen sucht. Und dies nicht nur im großen Zusammenspiel, auch in aparten Solo-Wirkungen und Verkleinerungen. Einmal begleiten nur die Theorben und die grandiose Konzertmeisterin Olivia Centurioni eine Arie – es ist, als ob sich der Gesang loslöst, abhebt und alles Irdische hinter sich lässt. Wer diese Musik hört, entflammt in Liebe auf den ersten Takt.
Das Vivaldi-Stück der Stunde
Die Themenvielfalt zwischen Feminismus und einem (Anti-)Kriegsdiskurs machen „Juditha triumphans“ offenbar zum Stück der Stunde. An der Bayerischen Theaterakademie war es gerade zu erleben, auch in Stuttgart oder Mannheim. Für den Innsbrucker Chef ist es ein Abschiedsgeschenk, an sich und ans Publikum. Nach 14 Jahren als Intendant verlässt Alessandro De Marchi die Festwochen der Alten Musik. Sein letzter Sommer unter der Nordkette steht im Zeichen Vivaldis, mit dessen „L’Olimpiade“ als Auftakt. Dass diese eigentliche Opernpremiere von „Juditha triumphans“ geschlagen wird, von einer acht Jahre alten und ins Tiroler Landestheater importierten Produktion des Teatro La Fenice in Venedig, liegt vor allem an der musikalischen Fraktion: Besser lässt sich das Oratorium kaum besetzen.
Wobei Oratorium: Die offizielle Stil-Zuordnung ist wie so oft charmanter Etikettenschwindel. Der Uraufführungsort, das Ospedale della Pietà in Venedig, Waisenhaus, Ausbildungsstätte und kulturaffine, caritative Organisation, verfügte über hervorragendes, ausschließlich weibliches Gesangspersonal. Dieses musste allerdings hinter Gittern und Vorhängen singen – was beim männlichen Besucher Pikantes bis zum Kopfkino provozierte.
Ein Gitter gibt es auch in der Innsbrucker Produktion. Eine Verstrebung horizontaler und vertikaler Lichtstreifen, später fallen stilisierte Strahlen von oben herab. Das Setting von Regisseurin Elena Barbalich, Massimo Checchetto (Bühne) und Tommaso Lagatolla (Kostüme) ist einfach, praktikabel und enorm wirkungsvoll. Lichtstimmungen und ein paar szenische Elemente reichen. Später, als es an die Enthauptung von Holofernes geht, werden auch barocke Bilder zitiert und im Tableau nachgestellt. Das Archaische des Stücks wird immer wieder gebrochen durch berückende Intimität: Alles geht uns im Doppelsinne nahe, weil die Sängerinnen gern den Steg um den Orchestergraben betreten, dabei auf Tuch- und Hörfühlung mit dem entzückten Publikum sind.
Jede Rolle ist perfekt gecastet
De Marchi ist hier nicht hoch genug zu preisen, weil jede Rolle auch vom Stimmzuschnitt perfekt gecastet ist. Anastasia Boldyreva als Holofernes mit ihrem herben, maskulinen, in tenorale Untiefen hinabsteigenden Mezzo zum Beispiel. Oder Fachkollegin Emilie Renard als Judithas Magd Abra, deren fein schattierte Verzierungskunst nie in äußerliche Brillanz driftet. Vor allem aber Sophie Rennert in der Titelrolle – ein Weltklasse-Auftritt. Man staunt über den Stimmumfang der Mezzosopranistin, über die Wärme und Rundung des Tons in jeder Lage, über die Präzision in den Intervallen, über linear geformte, nie gehäckselte Koloraturen, über das innerliche Glühen, das sich nur am Ende, in der Mordtat, als vokaler Grenzgang entlädt.
Schon lange begleitet „Juditha triumphans“ die Karriere von Alessandro De Marchi. Vor zwei Jahrzehnten hat er eine wegweisende Einspielung mit Magdalena Kožená in der Titelrolle vorgelegt. Anders als sein Innsbrucker Vorgänger René Jacobs ist der gebürtige Römer kein Überrumpler am Pult, kein Mann der musikalischen Überraschungsangriffe. Das Vivaldi-Oratorium kommt ihm dabei entgegen. De Marchi ist eher der Typ sorgsamer, kollegialer, umsichtiger Lotse, einen heftig taktierenden Animateur braucht das superb besetzte Festwochenorchester schließlich nicht. Standing Ovations vor allem für den scheidenden Intendanten – und vielleicht auch ein paar verdrückte Tränen.