Gruppenkuscheln an den Münchner Kammerspielen bei „Joy 2022“

Der belgische Choreograf Michiel Vandevelde hat an den Münchner Kammerspielen „Joy 2022“ eingerichtet. Nun hatten diese „neun Tableaus über Intimität und Begehren“ Premiere im Schauspielhaus.
Es ist ein Kommen (häufiger) und Gehen (seltener) in den Münchner Kammerspielen bei „Joy 2022“. Zudem wird im Schauspielhaus gestreichelt (sich selbst und einander), geaalt, geküsst, gedehnt, gerieben, gepatscht und gegatscht – sinnlich, sexy, süß, wenngleich selten subversiv. Der belgische Choreograf Michiel Vandevelde und sein Team haben diesen 80 Minuten langen Abend eingerichtet, eine Koproduktion der Kammerspiele mit den Wiener Festwochen. Im Juni war die Uraufführung in Österreich – am Freitag (9. Dezember 2022) die gefeierte München-Premiere.
„Joy 2022“ an den Münchner Kammerspielen bezieht sich auf „Meat Joy“
Vandevelde nimmt nicht nur im Titel Bezug auf die Performance „Meat Joy“, die Carolee Schneemann in Paris erstmals zeigte. Die Künstlerin (1939-2019) inszenierte 1964 – in einer Zeit, als die Darstellung von Sex und Nacktheit in ihrer Heimat USA verboten war – diese „fleischliche Freude“ als eine Art erotischen Ritus und in Erinnerung an dionysische Feiern der Antike.
Seit damals ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, und glücklicherweise hat sich manches verändert. Dennoch stellt „Joy 2022“ fest: „Sex und Gender befinden sich in einer Krise“. Wer sich umschaut in der Welt (der Iran, wo eine Strähne Haupthaar das Todesurteil sein kann, ist aktuell zwar ein offensichtliches Beispiel, bei Weitem aber nicht das einzige), weiß, dass Vandevelde und sein zehnköpfiges Ensemble nicht falsch liegen. Sie stellen dieser Entwicklung „neun Tableaus über Intimität und Begehren“ gegenüber, die das Ziel haben, uns „sanfter, zärtlicher, verletzlicher“ zu machen. Das klingt furchtbar pädagogisch, ist aber sehenswertes Theater. Auf einem runden Podest agieren die Schauspielerinnen Jelena Kuljić, Edith Saldanha, Lucy Wilke mit Leuten aus der Sexpositivity-Szene. Natürlich erzählt „Joy 2022“ von einer großen Utopie, ist also letztlich ein völlig harmonisch-harmloser Abend. Doch wo, wenn nicht im Theater ist denn noch Platz für Utopien?
Michiel Vandevelde zitiert Ballett, Modern Dance und Striptease
Vandevelde variiert in der Choreografie die Formensprache des klassischen Balletts ebenso wie die von Modern Dance, Aerobic, Sportgymnastik, Striptease. Die verspielte Lichtsetzung, die der Regisseur gemeinsam mit Stephan Mariani entwickelt hat, verzichtet zum Glück meist auf die – bei diesem Thema ach so nahe liegenden – Rottöne. So entstehen immer wieder eindrucksvolle Bilder des Begehrens, des intimen Miteinanders, die sich nicht nur an Schneemanns „Meat Joy“ orientieren, sondern die sich fidel durch die Kunstgeschichte zitieren.
Gesprochen wird wenig in dieser Inszenierung, die dem Stöhnen Raum gibt. Und dennoch markiert ein Wortbeitrag einen der wirklichen – Pardon – Höhepunkte. Kuljić, die ja auch ausgebildete Sängerin ist, interpretiert im Gestus einer Sopranistin die „Sonata Erotica“, die Erwin Schulhoff (1894-1942) im Jahr 1919 komponiert hat. Hier ist der Klang zweier Menschen beim Akt in Noten gegossen – derweil der Dadaismus unter der Decke hervorlugt. An einer Stelle heißt es: „Ach, lass uns wieder vernünftig sein.“ Alles, nur das nicht!
(Noch mehr Theater? Lesen Sie hier unsere Kritiken zu „Pussy Sludge“ am Münchner Volkstheater sowie zu „Das Erbe“ an den Münchner Kammerspielen.)