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Hüllenlose im Theater: Was steckt dahinter?

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Bochum - Gretchen beim Beischlaf im Hotelbett, die Hexen aus Macbeth hüllenlos auf dem Donnerbalken - eine Doktorarbeit versucht, das Phänomen der Freizügigkeit im Theater zu erklären.

Nach Jürgen Goschs drastischer “Macbeth“- Inszenierung Ende 2005 in Düsseldorf überschlug sich der Boulevard: wilde Blutspritzereien und nackte Hexen am Donnerbalken, Männer, die in Frauenrollen ihren Penis zwischen die Beine klemmen und sich wild im Dreck am Boden suhlen. Kritiker liefen Sturm gegen das “Ekeltheater“ und den “Sudel-Macbeth“, Zuschauer verließen wütend den Saal. Doch später erhielt Gosch für das Stück den renommierten Faust- Theaterpreis.

Auch in München gab es zuletzt im Volkstheater sehr viel nackte Haut zu sehen.

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Nacktes Fleisch und Fesselspiele bis hin zur lebensechten Vergewaltigung auf der Bühne gibt es heute nicht nur bei Theaterklassikern, sondern auch im Musiktheater, etwa im Punk-Rock- Musical “Nackt“ nach Arthur Schnitzlers “Reigen“, das Ende 2009 in Bremen die Gemüter bewegte. In den Münchner Kammerspielen wird in Armin Petras aktueller “Hermannsschlacht“-Inszenierung eine Frau von drei Männern scheinbar vergewaltigt und dann real bespuckt.

Die teils zornigen, teils erstaunlich gleichmütigen Reaktionen des Publikums auf solche Extremszenen und Nacktheit generell hat die Bochumer Theaterwissenschaftlerin Ulrike Traub in einer Dissertation untersucht - nicht erst in jüngster Zeit, sondern seit dem Kaiserreich. Traubs wichtigste These: Wenn Schauspieler die Hüllen fallen lassen, ist das in vielen Fällen keineswegs Effekthascherei. Oft kann Nacktheit Inhalte vermitteln, bei denen die Sprache versagt - etwa die gewalttätige und unheilschwangere Atmosphäre im “Macbeth“.

Der Weg zur Nacktheit begann im prüden Kaiserreich mit Tänzerinnen, die erstmals auf den klassischen Spitzenschuh und das Tutu verzichteten. Das reichte damals schon, um die Gemüter zu erregen. Die sexuelle Revolution der späten 60er Jahre brachte dem Theater dann ganz neue Dimensionen der Nacktheit, schreibt Traub.

“Nacktheit auf der Bühne stellt immer die Frage: Wie gehen wir mit unserem zivilisierten Körper um“, sagt die Autorin. Erregte Reaktionen im Publikum und der Öffentlichkeit zeigen dabei nach ihrer Meinung, wie stark die Menschen mit ihrem Körper und ihren Trieben auch heute noch fremdbestimmt und Normen unterworfen sind.

Eine dieser Normen lautet: Du musst jung und schön sein. Nackt ist heute erlaubt, sagt Traub - aber nur, wenn der Körper ästhetisch perfekt ist. Dazu wird gehungert, gestylt und notfalls das Premierenplakat per Fotoshop nachbearbeitet. Die Nacktheit und die Blutorgien etwa von Goschs “Macbeth“ richten sich nach ihrer Meinung auch gegen solchen Schönheitszwang: In der Düsseldorfer Inszenierung wurden Narben, Flecken und Fettpolster auf der Haut der Akteure eben nicht weggeschminkt.

Dass bei der Premiere in Düsseldorf manchem schlecht wurde und etwa ein Drittel der Zuschauer vorzeitig gingen, findet Traub schade: “Das Publikum macht bei der Diskussion über Nacktheit zu schnell zu“, meint sie. Andererseits: Manche Nacktszene ist einfach Klamauk und soll nur die Besucherreihen füllen - das räumt auch Traub ein.

“Eine Nacktszene im Stück, und zack ist dieses Bild nach der Premiere in der Presse, und das Publikum diskutiert nur darüber“, klagt etwa die Schauspielerin Lisa Hagmeister in der “Zeit“. Als Gretchen im Urfaust am Hamburger Thalia-Theater musste sie 2009 “wild vögeln“. Erotisch fand sie das nicht, eher technisch, erzählt die junge Schauspielerin. “Ich musste währenddessen so vieles organisieren - etwa: Wo ist die Bluse, die ich gleich wieder anziehen muss.“

Rolf Schraa, dpa

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