„Mama, es ist was Schlimmes passiert“: Ben (†) galt als Todesfahrer - Für Familie stirbt er nun ein zweites Mal

Mehr als zwei Jahre nach dem Tod seines Bruders Ben bei einem schrecklichen Unfall auf der A95 spricht Raphael Apostoli (27) über den Verlust, den Schmerz und den bevorstehenden Prozess gegen den mutmaßlichen Fahrer, der bis vor Kurzem als Opfer galt.
Gauting - „Mama, es ist was Schlimmes passiert.“ Raphael Apostoli muss seine Mutter selbst anrufen. Die Eltern sind auf Familienbesuch in Neapel. Die Polizei hat niemanden erreicht. Raphael erfährt online von dem schweren Unfall und stellt sofort die Verbindung her. Er weiß, mit welchem ungewöhnlichen Auto sein Bruder und dessen Kumpel unterwegs waren. Ben, 23, hatte ihm zuvor ein Foto von dem gemieteten Audi R8 Spyder geschickt. Es sollte Bens letzte Nachricht gewesen sein.
Der silberne Supersportwagen, rund 600 PS und 330 km/h Höchstgeschwindigkeit, rast am 1. September 2019 gegen 2 Uhr morgens auf der A95 Richtung Garmisch-Partenkirchen bei Oberdill erst gegen die Leitplanke und dann gegen einen Baum. Das Auto ist so schnell unterwegs, dass es durch den Aufprall zerfetzt wird. Motorblock, Autositze, Achsen verteilen sich über ein 100 Meter großes Trümmerfeld auf der Fahrbahn.
„Was ist passiert?“, will Bens und Raphael Mutter am anderen Ende der Leitung in Neapel wissen. Der damals 25-jährige Raphael muss der eigenen Mutter sagen, was er selbst nicht begreifen kann.
„Mama, der Ben ist gestorben.”
Sie glaubt es ihm nicht, legt auf. Fünf Minuten später ruft sein Vater zurück. Auch er will es nicht wahrhaben. Raphael soll einfach sagen, dass es nicht stimmt. Zuhause angekommen sind sie sich immer noch sicher, dass ein Irrtum vorliegt, dass ihr lebensfroher, junger Sohn, der Sonnenschein der Familie, gleich durch die Haustür hereinkommt und wieder allen ein Lächeln auf die Lippen zaubert, so wie er es immer getan hat.
Alptraum-Unfall auf A95 bei Starnberg: 20 Tage nach Ben stirbt auch sein Großvater
Ben kommt nicht mehr. Irgendwann akzeptieren das auch die Eltern und zerbrechen daran. Sie sind nicht die einzigen. 20 Tage später stirbt der Großvater. Er ist da bereits schwer krank, Bauchspeicheldrüsenkrebs. Bens Tod gibt ihm den Rest.

Nach Bens Tod ist alles anders - „Das ist kein Weihnachten mehr“
Die Familienbande bei den Apostolis, die seit 35 Jahren die Wirtschaft Krapf in Gauting führen, ist sehr eng. An Heiligabend ist der Schmerz besonders schwer zu ertragen. Früher feierten alle sechs gemeinsam. Oma, Opa, Mama, Papa, Raphael und Ben. Immer. Jedes Jahr. Egal, was. Kommenden Freitag werden sie zum dritten Mal zu viert sein. Und richtig gefeiert wird auch nicht mehr. „Er fehlt einfach so“, sagt Raphael, „das ist kein Weihnachten mehr.“
Tödlicher Unfall mit Audi R8 auf A95: Mutmaßlicher Fahrer hat zwei Jahre gelogen
Und diesen Heiligabend wird der Schmerz wieder so groß sein wie beim ersten Mal, vielleicht sogar noch größer. „Es ist so, als wäre Ben ein zweites Mal gestorben“, sagt sein Bruder. Denn ein Gutachten erzählt die Unfallnacht plötzlich neu. Nach langen, akribischen Ermittlungen der Verkehrspolizei Weilheim und der Staatsanwaltschaft München I stellt sich heraus: Die Version des Überlebenden, Alex K., 24, stimmt wohl nicht. K. sagte damals aus, Ben sei gefahren.
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Ben galt zwei Jahre lang als der „Todesfahrer von Gauting“, der sich selbst und beinahe seinen Freund auf dem Gewissen hatte. Die Familie zweifelte lange an der Version, auch weil Ben als IT-Vertriebler wahrscheinlich mehr Zeit hinterm Steuer verbracht hatte, als andere nach 30 Jahren Führerschein.
Ben galt zwei Jahre als „Todesfahrer von Gauting“ - Unerträgliche Kommentare auf Facebook
Trotz des Verdachts trugen hunderte Freunde den beliebten Gautinger zu Grabe. Doch das Stigma blieb. Die Vorverurteilungen waren da. Besonders hart und ungeschützt trafen sie Raphael auf Facebook. Unter den Unfallfotos las Raphael jeden einzelnen Kommentar und schaute sich die Profile der Schreiber an. Einer ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: „Karma regelt.”
Ben war nicht nur Raphaels Bruder. Er war sein bester Freund. Seine Vertrauensperson, seine Stütze in jeder Lebenslage. Als er starb, konnte er Raphael nicht mehr stützen und sollte selbst schuld daran sein. Sein Ben, plötzlich ein unverantwortlicher Raser, der nach Meinung vieler Facebook-Kommentatoren nichts anderes verdient hat als den Tod. Sein Ben soll das getan haben. Sein Ben, mit dem er so viel Zeit geteilt hat, so viele schöne Momente, Urlaube, Liebe, Weihnachten. Sein Ben, der immer korrekt gewesen ist. Das hat ihn ausgemacht.

Die Gefühle für Bens Bruder sind so unterträglich, dass er aufhört zu fühlen
Für Raphael sind die Gefühle damals so unerträglich, dass er aufhört zu fühlen. Seine Freundin merkt das als Erstes. Raphael verlässt sie und das gemeinsame Heim und zieht in die Wohnung seines toten Bruders. Um seinen Eltern nahe zu sein, sie zu unterstützen, aber auch, um alleine zu sein. „Ich habe mich damals sehr, sehr verändert. Ich bin sehr kalt geworden. An ihr lag’s nicht.“
Seit das Gutachten da ist, das Ben als Beifahrer einstuft, sind die Gefühle wieder da.
Familie ist Polizei und Staatsanwaltschaft sehr dankbar für Ermittlungen
Dafür, dass die Ermittlungen so lange gedauert haben, können weder Polizei noch Staatsanwaltschaft etwas. Im Gegenteil. „Solche Polizisten kann man sich in unserer Situation wirklich nur wünschen.“ Ein verkehrsanalytisches Gutachten dauert seine Zeit und muss vor Gericht auch standhalten. Dass die zuständige Strafkammer ungewöhnlich lange braucht, um über die Zulassung des Verfahrens zu entscheiden, liegt an Überlastung, sagt ein Sprecher des Oberlandesgerichts in München.
Vor Gericht wird Raphael Apostoli als Nebenkläger auftreten
Wenn es dann so weit ist, wird Raphael Apostoli als Nebenkläger auftreten und zum ersten Mal dem Mann gegenüberstehen, der zwei Jahre lang behauptet hatte, sein Ben hätte sich in den Tod gefahren.
So etwas wie Genugtuung wird Raphael dabei nicht empfinden. Seinen Ben wird das Gerichtsverfahren nicht zurückbringen. Dafür schmerzhafte Erinnerungen. Aber Raphael denkt sowieso die ganze Zeit an ihn.
Eine Szene kommt dabei besonders oft. Bei Raphaels Abschlussfeier nimmt Ben seinen Bruder auf die Seite. Er hat Tränen in den Augen und sagt: „Ich bin so stolz auf dich.“
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