„Probieren, nicht traurig zu sein“: Geflüchtete aus der Ukraine erzählen von Wünschen und Ängsten

Am 24. Februar 2022 sind russische Truppen in der Ukraine einmarschiert. Im Landkreis haben viele Ukrainer Zuflucht und Schutz gefunden. In Kochel erzählen einige von ihren Wünschen und Ängsten.
Kochel am See – Sie kamen, um Schutz zu suchen. Ein Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine leben weiterhin viele geflüchtete Familien im Landkreis – zwischen Gedanken an die alte Heimat und dem Bemühen, sich in der neuen ein Leben aufzubauen. Am Rande einer Chorprobe in Kochel berichten einige von ihren Wünschen und Ängsten.
Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Viele Geflüchtete haben im Landkreis Schutz gefunden
Lachen und Musik erfüllen das Haus. Im Wohnzimmer singen und tanzen Kinder, setzen sich abwechselnd an ein Keyboard. Ihre Chorleiterin dirigiert enthusiastisch. Über dem nahe gelegenen Kochelsee scheint die Sonne. Alles sieht aus wie ein perfektes Idyll. Tatsächlich aber liegt diese kleine Oase inmitten einer Lebenssituation, die alles andere als unbeschwert ist.
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Singen schenkt Kindern aus der Ukraine Freude und Selbstbewusstsein
Tetiana Vysokolian aus Kiew probt an diesem Nachmittag mit ihrem ukrainischen Kinderchor. Die Gesangslehrerin wie auch fast alle Mädchen und Buben, die mitmachen, haben im Landkreis Schutz vor dem Krieg in ihrer Heimat gesucht. Ein Jahr ist seit dem russischen Überfall auf die Ukraine vergangen. Schon bald nach ihrer Ankunft in Kochel gründete Tetiana Vysokolian den Chor „Perlen der Ukraine“. Nach ersten Auftritten in Kochel folgten Medienberichte und eine Reihe von Gastspielen: in Bad Tölz, Kochel, Lenggries, kommende Woche bei Roche in Penzberg. Tetiana Vysokolian investiert dafür viel Zeit. „Viele haben mir gesagt, ich soll den Chor aufgeben“, sagt sie. „Aber ich kann einfach nicht aufhören. Für die Kinder ist die Situation sehr schwer.“ Und das Singen schenke ihnen Freude und Selbstbewusstsein.
Ukraine-Geflüchtete: Kleines Stück Heimat in Deutschland gefunden
Ein kleines Stück Heimat haben sie hier gefunden – während sie gleichzeitig alle dabei sind, Deutschland und das Loisachtal zu ihrem Zuhause zu machen. Am Chor gefalle ihr besonders, „dass es hier ukrainische Kinder gibt“, sagt die zehnjährige Alina, die aus Dnipro stammt und jetzt in Kochel die vierte Klasse besucht. Später wolle sie „unbedingt zurück in die Ukraine“, sagt sie.
Bronislav „möchte hier bleiben, aber zu Hause ist es besser“
Auch die anderen Kinder wollen sich dringend interviewen lassen. Die neunjährigen Zwillinge Anna und Elina erzählen, wie ein Mädchen in der Lenggrieser Grundschule ihnen bei allem geholfen habe, wie sie manchmal am Nachmittag übers Internet ukrainischen Schulunterricht bekommen – und dass sie vor den Chorauftritten gar nicht aufgeregt seien. „Wir waren ja schon in der Ukraine Cheerleader.“ Ganz genau „30 Freunde“ habe sie in der Schule in Kochel, wo sie die 3a besucht, berichtet Nika (8). Der neunjährige Bronislav ist heute der einzige Bub in der Gruppe. „Ich habe schon in Odessa gesungen und wollte nicht aufhören“, sagt er. Später will er Arzt oder Koch werden – ob in Deutschland oder der Ukraine, weiß er nicht. „Beides ist schön. Ich möchte hier bleiben, aber zu Hause ist es besser.“
Chorleiterin Tetiana Vysokolian blickt in eine ungewisse Zukunft
Tetiana Vysokolian geht es da im Prinzip genauso. „50 zu 50“ stehe es um ihre Zukunftspläne. „Ich mag es, hier zu sein“, sagt sie. „Hier ist es friedlich und sicher.“ In Kiew habe sie miterlebet, wie um sie Bomben explodierten. Dass ihr Sohn und ihr Mann, die weiter in der Ukraine leben, nachkommen und sie hier arbeitet, sieht sie als eine Variante für ihr weiteres Leben. „Aber wenn der Krieg schneller aufhört, würde ich zurück in die Heimat gehen. Dort warten Menschen auf mich.“ In Kiew könnte sie „beruflich wachsen“, einen großen Chor gründen oder leiten. „Hier in Deutschland arbeite ich einfach nur.“
Was nicht abschätzig klingen soll. Von dem, was Tetiana Vysokolian in Deutschland erlebt hat, berichtet sie voller Dankbarkeit. In Penzberg arbeite sie mittlerweile an der Schule mit ukrainischen Kindern. Sie besucht einen Deutsch-Intensivkurs und einmal wöchentlich ein Coaching, wie man sich selbstständig macht.
Vysokolian ist dankbar für die Hilfsbereitschaft, die sie erfährt
Mit ihrer sechsjährigen Tochter Ludmilla lebt Vysokolian in einer kleinen Wohnung. Von den Nachbarn schwärmt sie. Die würden viel Hilfe anbieten, der Kleinen Bücher zum Deutsch-Lernen schenken. Und sie tolerieren, dass es bei den Chorproben im Wohnzimmer etwas lauter wird. Ganz wichtig ist es Vysokolian, ihrem Vermieter zu danken und namentlich auch Rosi Marksteiner vom Kochler Helferkreis. Wenn sie jetzt noch wüsste, dass sie über das Ende ihres Mietvertrags im Mai hier in der Wohnung bleiben könnte, „dann wäre alles super“.
Kommt Tetiana Vysokolian aber auf ihre Heimat zu sprechen, stockt die Stimme. „Ich denke jeden Tag an den Krieg, lese morgens und abends die Nachrichten.“ Zudem zeigt ihre eine App auf dem Handy jedes Mal an, wenn es in Kiew Luftalarm gibt.
Mutter in russisch besetztem Gebiet in der Ukraine
Der 16-jährige Sohn wollte nicht mit nach Deutschland. „Er hat seine Freunde in Kiew. Er sagt, er ist bereit, die Heimat zu beschützen.“ Die Mutter lebe in russisch besetztem Gebiet. „Es gibt keine Möglichkeit, mit ihr zu sprechen.“ Nur alle zwei Wochen schreibe sie übers Handy, „dass alles gut ist“. Tetiana Vysokolian kann nur ahnen, dass die Mutter ohne Angst vor Repressalien anderes berichten würde.
Verwandte in der Ukraine leben unter schweren Bedingungen
Bei Alla Kovalenko, die heute ihre Tochter zur Chorprobe begleitet hat, sind der Vater und ihr Ex-Mann die Hauptbezugspersonen in der Ukraine, zu denen sie Kontakt pflegt. „Sie haben oft Probleme mit dem Strom. Für sie ist es sehr schwierig, unter diesen Bedingungen zu leben“, sagt sie knapp und: „Ich probiere, nicht traurig zu sein.“
Oksana Diduk flüchtete mit ihrem Sohn aus Odessa nach Bayern. Ihr Mann darf nicht ausreisen. Ob sie ihn wiedersehen wird, weiß die 39-Jährige nicht.
Alla Kovalenko wünscht sich eine normale Zukunft für die Kinder
Sie könne bei ihrem Leben „nicht die Pause-Taste drücken“, formuliert es die 38-Jährige. „Nur ein normales Leben“ wünsche sie sich. Deutsch zu lernen, eine Arbeitsstelle zu finden, nicht vom Jobcenter abhängig zu sein. Und eine „normale Zukunft für die Kinder“, zwei Mädchen, 8 und 14. „Vielleicht in Deutschland, vielleicht in der Ukraine“, sagt Alla Kovalenko. „Ich weiß nicht, wie lange der Krieg noch dauert.“ Deutschland und den Menschen hier will auch sie Danke sagen. „Dafür, dass ich hier eine Chance bekomme“.
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„Ukrainer und Russen waren doch Freunde“
Was Tetiana Vysokolian, Alla Kovalenko und die Kinder sagen, übersetzt an diesem Nachmittag die 13-jährige Maria unermüdlich ins Deutsche. Die Siebtklässlerin lebt mit ihrer Familie schon seit drei Jahren in Benediktbeuern. Nach Kriegsbeginn kam die Großmutter aus der Ukraine dazu. Ansonsten aber versucht Maria, die Ereignisse in der Ukraine auszublenden. „Ich schaue und höre keine Nachrichten“, sagt das Mädchen. „Ich will nicht traurig werden. Hoffentlich ist der Krieg bald vorbei.“ Sie könne einfach nicht verstehen, was passiert, sagt Tetiana Vysokolian. „Ukrainer und Russen waren doch Freunde.“
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