Mieter neuer Wohnanlage verzweifeln an Planung: „Der ganze Bau ist ein Witz!“

Die Sozialwohnungsanlage samt Kita am Dachauer Amperweg sollte ein kommunales Vorzeigeprojekt werden. Tatsächlich entpuppte sich das Bauvorhaben als bürokratisches Monstrum.
Dachau – Erika Grauer lebt seit Jahresbeginn in der Wohnanlage am Amperweg 18. Noch mit ihrem Mann Jakob hatte sie sich im vergangenen Jahr um eine altersgerechte Wohnung in der Anlage beworben; nach dem Tod Jakobs Ende Januar musste Erika Grauer aber Anfang Februar allein einziehen. Eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung für vergleichsweise erschwingliche 900 Euro Warmmiete in guter Lage und vermietet von der kommunalen Stadtbau GmbH – das sollte fortan die neue Heimat der 82-Jährigen werden.
Doch auch nach neun Monaten will die alte Dame nicht warm werden mit der Anlage, die die Stadt in den vergangenen Jahren immer wieder als Vorzeigeprojekt beworben hatte.
Die Idee: Auf dem schmalen Grundstück sollte ein L-förmiger Baukörper entstehen, der im Erdgeschoss eine Kita sowie zwei Kindergartengruppen beherbergt und in den beiden Obergeschossen 19 Wohnungen, die mit Quadratmeterpreisen zwischen 6 und 8 Euro auch für einkommensschwächere Menschen erschwinglich sind. Für das bis dahin einzigartige Bauprojekt verantwortlich zeichnen sollte die Stadtbau GmbH, die – nach den Worten ihrer Geschäftsführer – damals aber noch nicht wusste, was da an Bürokratie auf sie zukommen sollte. Tilman Bernecker, der Geschäftsführer Technik der Stadtbau, formuliert es heute so: „Wir wären nicht unglücklich, wenn wir nie wieder eine Kita bauen müssten.“
Um eine Kita genehmigt zu bekommen, müssen unendlich viele Vorschriften eingehalten werden
Tatsächlich sind „viele Player“ im Boot, wenn es um Bau und Genehmigung einer Kita geht. Bernecker zufolge reden mit: die Stadtverwaltung, das Landratsamt und die gesetzliche Unfallversicherung. In ungezählten Vorschriften würde – unter anderem – geregelt: die Anzahl der Klein- und Kleinst-WCs, die Größe von Türen, Fenstern, Außenanlagen, Verschattung und Belichtung.
Letztere ist der Grund, warum es bei der Bauausführung zu einer Lösung kam, die Erika Grauers Sohn Alexander und dessen Frau Alexandra Oberholzner für gelinde gesagt bescheuert halten. Beziehungsweise: „Das ganze Gebäude ist ein Witz!“
Um den Kindergarten- und Kitakindern nämlich die vorgeschriebenen Freiflächen bieten und gleichzeitig die ausreichende Belichtung der Baukörper zu garantieren, wurden sogenannte Lichthöfe angelegt. Darin sollten, zumindest theoretisch, Kinder spielen können und gleichzeitig die Wohnungen darüber natürliches Licht bekommen.
Die Kinder sollen vor herabfallenden Zigaretten geschützt werden
Das Problem: die Sicherheit der Kinder. Laut Bernecker gibt es nämlich in den Wohnungen der Stadt auch „schwierige Mieter“, die mal eine brennende Zigarette aus dem Fenster werfen oder gleich mal eine ganze Bierflasche. Sollte dabei ein Kind verletzt werden, so Bernecker, „dann brennt bei uns die Bude“. Die Stadtbau ging daher auf Nummer sicher – und baute in Richtung der Lichthöfe also nur Fenster ein, die sich nicht öffnen lassen. Im Fall von Erika Grauer sind dies die Küchenfenster. Um alle Fenster zum Lichthof der Sozialwohnungen zu putzen, muss also regelmäßig ein professioneller Reinigungsservice bestellt werden.
Was sich dagegen kippen und öffnen lässt, ist ein Sichtschutz auf dem Balkon der 82-Jährigen. „Wir mussten schallend lachen, als wir das zum ersten Mal gesehen haben“, erzählt Schwiegertochter Alexandra. Das kippbare Sichtschutzfenster sei eine „Maßanfertigung“, die nach Ansicht von Erika Grauers Sohn Alexander „locker 1500 Euro“ kostet. In Kombination mit der von einem Münchner Graffiti-Künstler gestalteten Tiefgaragenauffahrt findet die Familie: „Das ist Steuergeldverschwendung! Wer plant denn so was?“
Zu der bunten Tiefgaragenauffahrt gibt Technik-Chef Bernecker zu, dass „Kunst am Bau“ zwar „nicht unüblich“, aber tatsächlich in diesem Fall „nicht erforderlich“ gewesen wäre. Allerdings habe man sich dieses bunte Element „erlaubt“. Es sollte verhindern, „dass wir sonst nur Beton in Beton haben“.
Pläne der Architektin wurden „nicht im Einzelnen hinterfragt“
Beim Sichtfenster am Balkon verweist Bernecker auf die Architektin, deren Pläne man „nicht im Einzelnen hinterfragt“ habe. Klar sei auch, dass eine „starre Verglasung einfacher gewesen wäre“ als der jetzige Einbau. Aber: So könnten die Bewohner die Fläche putzen.
In Summe, betont Stadtbau-Chef Hendrik Röttgermann, sei der Bau am Amperweg ein „maximaler Kompromiss“ auf einem Grundstück, das man so „intensiv wie möglich genutzt“ habe. Das Resultat seien „sehr schöne Wohnungen in sehr guter Lage“.
Dass eine ähnliche Wohnanlage – also ein Mischmodell bestehend aus Wohnungen und Kita in einem Gebäude – so schnell wieder auf den Schreibtischen von Röttgermann und Bernecker landet, scheint aktuell unwahrscheinlich. Bei einem Pressetermin auf der Baustelle im Sommer 2022 hatte Oberbürgermeister Florian Hartmann erklärt, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen „sperrig“ seien.
Wobei Hartmann sich bei seiner Rede noch nicht einmal auf die baurechtlichen Details bezog, die Mieterin Erika Grauer und Vermieter Stadtbau so nerven. Vielmehr sprach Hartmann vom Steuerrecht. Die Stadt hatte nämlich einen Teil der 19 Wohnungen am Amperweg an Einheimische verkaufen wollen. Eine gemeinsame Tiefgarage für Mieter und Eigentümer aber hätte der Gesetzgeber verboten. Am Ende wurden es daher nur Mietwohnungen. Ohne kippbare Küchenfenster.
Noch mehr aktuelle Nachrichten aus dem Landkreis Dachau finden Sie auf Merkur.de/Dachau.