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Alptraum über drei Jahre: Warum ein bestens integrierter Nigerianer von der Polizei gesucht wurde

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Mit den Gerichten hat Chidi O. auch die deutsche Kultur gelernt: Der 31-Jährige arbeitet seit sechs Jahren bei der Catering-Firma Strohmaier in Unterhaching.
Mit den Gerichten hat Chidi O. auch die deutsche Kultur gelernt: Der 31-Jährige arbeitet seit sechs Jahren bei der Catering-Firma Strohmaier in Unterhaching. © sw

Seit sechs Jahren arbeitet Chidi O. aus Nigeria bei einer Catering-Firma in Unterhaching. Er spricht gut Deutsch, kommt selbst für seinen Lebensunterhalt auf, war nie straffällig. Und doch will die Polizei ihn zweimal abholen und in Abschiebehaft bringen. 

Unterhaching – In der verwinkelten Küche im Zentrum von Unterhaching hackt Chidi O. Paprika. Neben ihm brodelt eine Gemüsesoße. In sechs Jahren bei der Catering-Firma Strohmaier hat der 31-Jährige viele Gerichte gelernt, die er zuvor nicht kannte, und mit der deutschen Küche auch die deutsche Kultur kennengelernt. Chidi O. ist inzwischen die rechte Hand seiner Chefin Yasemin Weidemeier.

Die 58-jährige Unternehmerin sitzt am Tisch im Sozialraum. Sie zieht ihre weiße Kopfhaube vom Haar. „Wenn ich Chidi sage, koch 300 Kilo Spätzle, kann ich mich darauf verlassen, dass sie gut sind“, sagt die Chefköchin. Ihr Mitarbeiter sei von Jahr zu Jahr selbständiger geworden: „Wir setzen auf ihn.“

Unterhaching: Polizei will ihn in Abschiebehaft bringen

Obwohl der 31-Jährige, der 2014 aus Nigeria nach Deutschland flüchtete, seit 2015 selbst für seinen Lebensunterhalt aufkommt, Steuern zahlt, ausreichend Deutsch spricht und nie straffällig wurde, kam zweimal die Polizei in die Unterkunft in Unterhaching, um ihn in die Abschiebehaft zu bringen. Zweimal ist er nicht zuhause. – „Das war sein Glück“, sagt Weidemeier, „und unser Glück.“

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Drohende Abschiebung: Unterstützung von allen Seiten, Kritik an Politik

Obwohl bei Chidis Integration eigentlich alles gut lief, erlebt er Monate voller Angst. Gleichzeitig erhält er viel Unterstützung. Menschen stehen ihm bei, in der Firma, im Helferkreis, im Landratsamt und in der Politik. „So viele Menschen waren mit einem Fall beschäftigt, bei dem eigentlich alles vorbildlich lief“, sagt Landtagsabgeordnete Claudia Köhler (Grüne), die sich im Asyl-Helferkreis Unterhaching engagiert: „Chidi ist ein Vorzeige-Flüchtling.“

Sie sieht in den Problemen ein Muster: „Asylhelferkreise und die Sozialarbeit bemühen sich jetzt seit 2015, die Leute in Arbeit zu bringen. Und Bayern schmeißt uns nur Prügel zwischen die Füße anstatt Arbeitsmöglichkeiten zu fördern.“ Auch die Firma Strohmaier braucht Chidi: „Du findest ja niemanden als Spüler und Küchenhilfe“, Yasemin Weidemeier zuckt ratlos mit den Schultern, erst recht nicht einen wie Chidi: „In den siebeneinhalb Jahren war er – wenn überhaupt – nur zwei Tage krank.“

War in großer Sorge, dass wieder einer ihrer Mitarbeiter abgeschoben werden würde: Yasemin Weidemeier (r.) mit Landtagagsabgeordneter Claudia Köhler, die sich im Asyl-Helferkreis engagiert.
War in großer Sorge, dass wieder einer ihrer Mitarbeiter abgeschoben werden würde: Yasemin Weidemeier (r.) mit Landtagagsabgeordneter Claudia Köhler, die sich im Asyl-Helferkreis engagiert. © sw

Ab fünf Uhr morgens kocht das Team 2000 Essen für Kindergärten und Schulen. Dann liefern die Mitarbeiter die Menüs aus. Jeder Wochentag ist eine logistische Herausforderung: „Wenn jemand ausfällt, kann Chidi Arbeiten übernehmen. Seit er den Führerschein hat, springt er auch als Fahrer ein,“ sagt sie.

Bürokratische Missverständnisse

Zwei andere nigerianische Mitarbeiter der Firma wurden von heute auf morgen abgeschoben: „Wir haben uns gewundert, warum Victor nicht zur Arbeit kam, haben versucht ihn anzurufen“, erzählt die Chefin. „Drei Tage später meldet er sich – aus Nigeria. Eine Katastrophe“, sagt Weidemeier. Dasselbe erlebte sie mit einem anderen Beschäftigten aus Nigeria. Sie hatte größte Sorge, auch Chidi O. zu verlieren, schließlich sucht sie händeringend Arbeitskräfte.

Der Grund für den Albtraum sind mehrere bürokratische Missverständnisse. Um ein dauerhaftes Bleiberecht zu bekommen, beantragt Chidi O. einen Pass bei der nigerianischen Botschaft in Berlin. Der Ausweis wird Anfang August 2020 ausgestellt, aber pandemiebedingt erst am 23. März 2021 ausgehändigt. Sein Anwalt schickt daraufhin eine Kopie des Passes an die Ausländerbehörde. Daraufhin stellt ein Mitarbeiter prompt Strafanzeige, er sieht in der zeitlichen Verzögerung die Erschleichung einer Duldung: Der Pass sei zu spät abgegeben worden, heißt es.

Petition beim Landtag eingereicht

Chidis Unschuld wäre leicht über einen Anruf bei der Asylsozialberatung oder beim Helferkreis zu klären gewesen. Doch das Verfahren der Staatsanwaltschaft wird erst am 10. Oktober 2021 eingestellt. Weil die Abschiebung angeordnet und die Polizei schon auf der Suche nach Chidi O. ist, setzen seine Unterstützer alle Hebel in Bewegung. Die Vorsitzende des Helferkreises, Franziska Kindsmüller, reicht eine Petition beim bayerischen Landtag ein. Schließlich sagt die Ausländerbehörde zu, dass Chidis Ausweis seinem Anwalt zugeschickt wird. Als in der Anwaltskanzlei nichts ankommt, hakt der Helferkreis nach. Die Papiere mit Chidis Foto waren im Juli 2022 an eine völlig andere Person, einen Mann aus Pakistan, verschickt worden – eine Verwechslung.

Landrat bewirkt, dass Abschiebung ausgesetzt wird

Jetzt schaltet die Grünen-Landtagsabgeordnete Claudia Köhler aus Unterhaching im August 2022 direkt Landrat Christoph Göbel (CSU) ein: „Er hat sofort die Akte gelesen“, berichtet sie. Der Irrtum wird aufgeklärt. Göbel bewirkt, dass die Abschiebung ausgesetzt wird. Schließlich hat auch die Petition Erfolg. Der Landtag behandelt sie im April 2023. Die Staatsregierung empfiehlt in ihrer Stellungnahme, der Petition stattzugeben und Chidi O. Aufenthalt und Arbeitserlaubnis zu gewähren. „Das kommt selten vor“, so Köhler. Drei Jahre hat Chidi auf seine Papiere gewartet.

Großer Frust bei Ehrenamtlichen

Zwar ist für den gut integrierten Nigerianer noch einmal alles gut gegangen, „aber wie viele Telefonate und Schreiben waren nötig?“, fragt sich Köhler: „Was mich erschüttert ist, dass Chidi ein Vorzeige-Flüchtling ist. Trotzdem kann er nur bleiben, weil so viele sich für ihn engagiert haben. „Bei Ehrenamtlichen hinterlässt das unglaublich tiefen Frust.“ Ihr Appell: „Die Behörden sollten nicht schauen, wie man die Flüchtlinge losbringt, sondern, wie man gute Mitarbeiter behält.“

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