Mit 14 flüchtete er vor den Taliban: Heute hat Talib (22) in Freising eine neue Heimat gefunden

Talib Jan Ahmadzai ist 14, als er aus seiner Heimat Afghanistan flüchten muss. Heute hat der 22-Jährige in Freising eine neue Heimat gefunden – und ist ein Vorbild in Sachen Integration.
Freising – Plötzlich muss es schnell gehen. Im Eittingermoos, einer kleinen Gemeinde östlich von Freising, brennt im April dieses Jahres eine Unterkunft für Geflüchtete lichterloh. Einsatzkräfte aus der ganzen Umgebung eilen herbei, um das Feuer zu löschen. Stundenlang ziehen sich die Arbeiten, das Gebäude, in dem zig Menschen verschiedener Nationen Unterschlupf gefunden haben, ist nicht mehr zu retten. Unter den Helfern ist auch Talib Jan Ahmadzai, den alle nur Tali nennen. Für ihn, den Geflüchteten aus Afghanistan, ist es der erste große Einsatz mit der Feuerwehr. Dass es der Brand einer Asylunterkunft ist, ist fast schon Ironie des Schicksals.
Doch vor allem ist da dieser Tali, der hier längst angekommen ist in Deutschland, eine Ausbildung bei der Deutschen Bahn macht, sich freiwillig bei der Feuerwehr in Freising engagiert, der längst wie selbstverständlich dazugehört zu einer Gesellschaft, die gerade wieder viel über Geflüchtete und Aufnahmekapazitäten von wohlhabenden Bundesländern wie Bayern diskutiert wie sonst nur über die richtige Füllmenge von Maßkrügen auf dem Oktoberfest, während anderswo die Bomben auf Menschen herniederhageln. Aber dazu später mehr.

Es ist an einem Freitag im Oktober, Tali und ich haben uns bei mir zu Hause verabredet. Wir wollen gemeinsam kochen, es soll ein bajuwarisch-afghanischer Abend werden, weil gutes Essen Menschen zusammenbringt. Tali ist aber vor allem gekommen, um mir seine Geschichte zu erzählen. Die von der Flucht aus Afghanistan vor beinahe acht Jahren, zu Fuß und über Monate hinweg, immer begleitet von der Angst zwischen Leben und Tod. Von seiner Ankunft in Deutschland, vom langen Weg zur Integration bis hin zur Ausbildung zum Schienenfahrzeuginstandhaltungsmechaniker, so nennt das Amtsdeutsch diesen Berufszweig bei der Bahn, bei der es Talib mittlerweile zum Jugendvertreter der Gewerkschaft gebracht hat.
Die Familie besitzt sehr wenig
Man spricht Deutsch, um einen Filmklassiker zu zitieren. Es soll Gazar Pellau geben an diesem Abend, ein afghanisches Festessen. Und während Tali für den Eintopf mit Reis routiniert Zwiebeln, Karotten und Hühnerfleisch klein schneidet, beginnt er zu erzählen. Eigentlich kocht er das Gericht zu Hause in 45 Minuten, dass es an diesem Abend fast zweieinhalb Stunden werden, darüber machen wir uns wenig Gedanken. Tali erzählt, ohne dass ich viele Fragen stellen muss. Von der Jugend mit fünf Geschwistern in Baklan, einem kleinen Dorf südlich von Masar-e Scharif. Viel gibt es dort nicht: karge Landschaft, kaum Infrastruktur. In die Schule geht Talib nicht, die Familie besitzt wenig: Felder und einen Garten, sieben Personen werden davon ernährt.
Taliban verletzen den Bruder schwer
„Krieg ist bei uns seit mehr als 30 Jahren“, erzählt der heute 22-Jährige und es klingt, als hätten sich die Menschen schon daran gewöhnt. Doch dann kommen 2014 die Taliban und stellen alles auf den Kopf. Talibs Bruder, der vom verstorbenen Vater die Rolle des Schulleiters im Dorf übernommen hat, möchte bei der anstehenden Wahl auch Frauen zulassen. Ein fataler Fehler, das Unheil nimmt seinen Lauf. Die Taliban schießen Talibs Bruder in den Kopf, von nun an kann sich die Familie nicht mehr sicher sein. Und deswegen beschließen Talib und sein Bruder, der bleibende Schäden davongetragen hat, von jetzt auf gleich aus ihrer Heimat zu flüchten. Sie kratzen ihr letztes Geld zusammen, verkaufen Land, vertrauen sich Schleusern an. 7000 Euro kostet die Flucht aus dem Krieg, ein durchschnittlicher Arbeiter verdient in Afghanistan vier Euro am Tag. Im Frühjahr packen sie notdürftig wenige Sachen zusammen, jeder einen Rucksack mit etwas Essen und Trinken und die Kleider, die sie am Leib tragen.
Die Schleuser bringen die Männer zunächst über Pakistan in den Iran. An der dortigen Grenze erleben beide das Grauen der Flucht zum ersten Mal. Drei Mal werden sie zurückgeschickt, kehren zurück, drei Männer werden neben ihnen erschossen, ein vierter bleibt verletzt liegen. „Ich hatte Angst, wirklich Angst“, sagt Tali, während er weiter das Gemüse schneidet. Das Wort fällt nicht zum letzten Mal an diesem Abend. Ob er je ans Umkehren gedacht hat? „Das ging nicht“, erzählt er relativ gefestigt. „Zu Hause wären wir bedroht worden, zudem wollte ich meinen Bruder nicht im Stich lassen.“
Brüder verharren drei Monate im Nirgendwo
Irgendwann kommen die beiden Brüder über die Grenze, doch im Iran geht der Horror weiter. Drei Monate müssen sie im Nirgendwo der Berge verharren, schlafen auf dem nackten Boden, haben kein Dach über dem Kopf, eine Dusche bekommen sie über Wochen nicht. Das Schlimmste ist aber der Durst. Bei sengender Hitze auf dem Breitengrad Höhe des Mittelmeers haben die Männer oft tagelang nichts zu trinken, suchen sich am Ende ein paar Tropfen Regenwasser aus Pfützen. „Das war grausam“, erwähnt Tali fast nebenbei. „Da wäre ich fast gestorben.“
Auch die Polizei macht Jagd auf die illegalen Einwanderer, irgendwann bringen Schleuser die Brüder weiter in die Türkei. Immer noch legen die beiden Flüchtenden alles zu Fuß zurück, Kilometer um Kilometer, Wochen sind sie jetzt schon unterwegs. Nach Ankara und Istanbul bringt sie ein Bus, immerhin. Wieder und immer wieder müssen sie Schleuser bezahlen.
Dreimal werden die Brüder festgenommen
Von der Türkei geht es dann wieder zu Fuß weiter, das nächste Ziel ist Bulgarien. Dort erleben Talib und sein Bruder erneut Schreckliches: Drei Mal werden sie festgenommen und geschlagen. „Manchen haben sie nackt ausgezogen und gedemütigt“, berichtet Tali. Ob er einer der Gedemütigten war? Ich traue mich nicht zu fragen.
Irgendwann sind die Brüder schneller als die Polizei, landen schließlich in Serbien. „Hier waren die Leute zum ersten Mal freundlich, auch die Polizei“, schwärmt Talib fast schon. Das Problem jedoch: In diesem Land fehlt es an Unterkünften, bleiben können sie also nicht. Ein wirkliches Ziel hat der Tross der Flüchtenden nicht, es ist auch nicht Deutschland, wie oft vermutet wird. Daheim in Afghanistan, blickt Tali zurück, wussten sie von Deutschland, dem scheinbar gelobten Land, nicht einmal Bescheid. Damals, 2014, in dem Jahr, als Deutschland Weltmeister wurde. „Unser Ziel war Italien, das Land kannten wir.“
In Serbien können Tali und sein Bruder also nicht bleiben, es geht weiter nach Ungarn. Immer noch zu Fuß, immer noch ohne Vorstellung von der Zukunft, Hauptsache weg. Dort werden sie fest- und Fingerabdrücke abgenommen, dort sollen sie bleiben, so schreibt es der Königsteiner Schlüssel vor. Weil aber auch die Bedingungen miserabel sind, gelingt Tali und seinem Bruder erneut die Flucht, wieder helfen ihnen Schleuser. In Österreich müssen sie sich dann in ein Großraumtaxi zwängen, 14 Personen in ein Gefährt, das für neun ausgelegt ist.
In Deutschland mit 50 Euro gestrandet
Kurz hinter der Grenze bei Passau werden alle aus dem Taxi geworfen. Bei der Polizeikontrolle versteckt Talib die letzten 50 Euro, die er noch hat. Es ist schon das Jahr 2015, der Beginn der Migrationswelle, als noch niemand genau umzugehen wusste mit den Menschen aus aller Herren Länder. „Dolmetscher, die unsere Sprache kannten, gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht“, erinnert sich Talib. So kommt es, dass seine Identität zunächst falsch angegeben wird. Und: Er und sein Bruder wissen immer noch nicht, in welchem Land sie sich befinden.
Drei Tage wohnen sie in einer Unterkunft der Caritas, bis sie ein Zugticket erhalten, um nach München zu fahren. Ihre neue Heimat wird von nun an die Bayernkaserne. Am Stachus erfährt Talib von anderen Afghanen schließlich, wo er ist: Deutschland. Eigentlich wollten die beiden Brüder wieder weiter, nach Italien oder ein anderes Land.
Durch Zufall in Dietersheim gelandet
Doch durch einen Zufall landen sie in einer Geflüchtetenunterkunft in Dietersheim im Süden des Landkreises. Das soll zum Glücksfall für Tali werden. Der inzwischen 15-Jährige geht bald in die Mittelschule nach Eching und erkennt die Möglichkeiten, die er hier hat. Er lernt schnell Deutsch, spricht heut fast akzentfrei, hat gute Noten, schließt die Prüfungen als Bester ab. Und es ist der Moment – das Gazar Pellau ist jetzt, am späten Abend, fast fertig –, in dem öfter das Wort „korrekt“ fällt. Für Talib ist es ein Lob. Etwa für Herrn Rock, den damaligen Schulleiter in Eching, der erste Sprachkurse einrichtet, oder auch für Familie Strobl, die den Brüdern aus Afghanistan viel hilft. Und: Es ist die Zeit, in der Talib erstmals Kontakt zur Freiwilligen Feuerwehr hat.
Stolz, die Feuerwehr-Ausrüstung zu tragen
Ende 2019 wird sein erster Asylantrag vom Bundesamt für Migration abgelehnt. Was bei einem zweiten Antrag aber helfen könnte: der Nachweis eines ehrenamtlichen Engagements. „Außerdem wollte ich der Gesellschaft etwas zurückgeben“, betont Talib. Er beginnt in Dietersheim mit der Grundausbildung. Und es ist jetzt eine Zeit, in der die beiden Brüder ihren Umzug planen. Raus aus der Asylunterkunft, rein in eine eigene Bleibe. Eine solche finden sie in Freising, zunächst in der Johannisstraße. Klar ist auch: Das Engagement bei der Freiwilligen Feuerwehr soll weitergehen, zu viel Freude bereitet es Talib, zu sehr hat ihn das ehrenamtliche Engagement jetzt angefixt. Mittlerweile kommt der junge Mann so oft es geht zum Einsatz, zu allen Tages- und Nachtzeiten. „Hier kann ich mich einbringen“, erklärt der heute 22-Jährige, der auch ehrenamtlich als Dolmetscher für das Landratsamt arbeitet. „Und wenn ich meine Schutzausrüstung anhabe, bin ich schon stolz.“
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Die Freiwillige Feuerwehr, sie ist Talib zu einer neuen Heimat geworden. Dort hat er Anschluss, dort hat er Freunde gefunden. Vor allem auch, seit er Anfang 2023 nach Lerchenfeld gezogen ist. „Viel verdanke ich auch Moritz, der mir am Anfang in der Feuerwehr viel gelernt und geholfen hat.“
Freising ist auch der Ort, in dem Talib eine Ausbildung beginnt: „Das habe ich irgendwann mitbekommen, dass das sehr wichtig ist.“ Erst will er Rechtsanwaltsfachangestellter werden, über Praktika merkt er aber, dass das gar nicht das Seine ist. Relativ rasch wird er dann auf die Bahn aufmerksam, Probleme bereitet aber nach wie vor die Ausländerbehörde. Talib wird lediglich für die Einstiegsqualifizierung, die ein Jahr geht, akzeptiert. „Doch die Bahn hat mir sehr geholfen“, schwärmt er über seinen Arbeitgeber. Und irgendwann liegt dann auch die Genehmigung für eine Ausbildung vor.
Schon bald steht die Gesellenprüfung an
Erst will Talib Lokführer werden, von 100 schaffen das aber nur 15, zu komplex ist der Test. Über ein weiteres Praktikum landet Talib in den Werkstätten des Unternehmens – und merkt, dass ihm der Job des Schienenfahrzeuginstandhaltungsmechanikers taugt. Knapp drei Jahre ist das jetzt her, im Februar wird Tali die Gesellenprüfung ablegen. Einen neuen, dann unbefristeten Vertrag hat er bereits vorliegen. „Das hat mich sehr gefreut“, sagt der 22-Jährige und strahlt übers ganze Gesicht.
Tali lacht sowieso viel, ist immer für einen Spaß zu haben, dann etwa, wenn bei der Bahn wieder gestreikt wird. Haha, da muss er selbst lachen. Auf was Talib auch stolz ist: Mittlerweile ist er zum Jugendvertreter in der Gewerkschaft aufgestiegen, ist bei Vorstellungsgesprächen dabei. Dort kann sich Tali für das Wohl anderer einsetzen.
Afghanistan-Rückkehr wäre zu gefährlich
Wir sitzen mittlerweile beim Essen, das Gazar Pellau schmeckt vorzüglich. Wie er sich seine Zukunft vorstellt? Bei diesem Thema wird Talib still. Wir widmen uns dem bajuwarischen Teil unseres Abends. Es soll Kaiserschmarrn geben, Talibs absolutes Lieblingsessen, das hat er mir vor längerer Zeit verraten, und deswegen habe ich ihn damit überrascht. Seine Augen glänzen, als ich die ersten Eier aufschlage. Dann antwortet er auf die Frage nach der Zukunft: „Ganz einfach: Meine Zukunft liegt in Deutschland.“ Zu gefährlich wäre es, nach Afghanistan zurückzukehren, und zu viel Schlechtes habe Talib dort auch erlebt. Im Koranunterricht zum Beispiel, dass er kämpfen und andere umbringen solle. „Das war auch ein Grund, warum ich das Land verlassen habe“, gibt er zu. „Wer das nicht macht, wird verfolgt.“ Natürlich: Afghanistan sei ein schönes Land mit schöner Natur, vielen Bergen. Und vor allem: Es ist das Land seiner Familie.
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Kontakt zur Familie ist unterbrochen
Es ist jetzt der Moment, als wir den Kaiserschmarrn in den Ofen schieben, als Talib nachdenklich wird. Zwei Jahre hat er nun schon keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter und den beiden Brüdern, die noch in Afghanistan leben. Weiß nicht, wie es ihnen geht, wie die Lage dort ist, ob sie überhaupt noch leben. Fast täglich probiert es Talib, wird aber jedes Mal enttäuscht. Die Infrastruktur ist zu schlecht, Strom und Netz gibt es kaum, Telefonate sind nicht möglich, WhatsApp sowieso nicht.
Deswegen würde er nur der Familie wegen dorthin zurück, würde alle drei gerne nachholen nach Freising, ihnen Sicherheit bieten, seine neue Heimat zeigen. Die Berge in Garmisch, die ihn an daheim erinnern, seine Schutzausrüstung bei der Feuerwehr, seinen Arbeitsplatz bei der Bahn. Und er würde ihnen gerne die Geschichte seiner geglückten Integration erzählen, die er hier erlebt hat. Und die vom Brand in der Freisinger Altstadt vor einigen Wochen. „Heute Freising gerettet“, hat Talib Jan Ahmadzai damals auf Instagram gepostet. Es musste wieder einmal schnell gehen.
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