Altes Kraftwerk Obersendling: Von der Industriebrache zum Schmuckstück

München - Es begann mit einem Streit. Die Pläne eines Investors, einem alten Kraftwerk in Obersendling wieder Leben einzuhauchen, sorgten vor einigen Jahren für hitzige Debatten. Doch die Idee erwies sich als Volltreffer und wird bei der Architekturbiennale in Venedig vorgestellt.
Nur noch Stahl und Beton, nutzlos und leer. Ein überflüssig gewordenes Relikt aus vergangenen Zeiten. 1961 war der Koloss als Gas-Versuchskraftwerk an der Drygalski-Allee errichtet worden. Die unausgereifte Technik und zwei Explosionen führten nach knapp vier Jahrzehnten zum Aus. 1999 wurde das Heizkraftwerk stillgelegt und stand danach leer – eine mit Schutt gefüllte Ruine, für die sich niemand mehr interessierte.
Bis Ende 2010 plötzlich die Nachricht von einem Besitzerwechsel die Runde machte. Ein privater

Investor hatte sich an das frühere Kraftwerk gewagt und es den Stadtwerken München abgekauft. Bald danach beauftragte er das Münchner Architekturbüro „Stenger2“ mit der Umbauplanung. Dort war man sofort vom Potenzial des Gebäudes überzeugt. Doch es gab viele Unwägbarkeiten – kein Projekt für Angsthasen. Genau das spiegelt auch der Titel des Ausstellungsbeitrags wider, der die Revitalisierung des Kraftwerks noch bis zum 27. November bei der 15. Architekturbiennale in Venedig vorstellt: „Fearless“. Auf Deutsch: Furchtlos.
Die Debatte, die nach dem Verkauf der Immobilie entbrannte, war teils zornerfüllt. Den Klotz mit den beiden 80 Meter hohen Schornsteinen erhalten? Die Meinungen dazu gingen weit auseinander. Während einige für Denkmalschutz plädierten, forderten andere – darunter auch Münchner Stadträte – vehement den Abriss des Kraftwerks. Es sei hässlich, müsse weg. Für den neuen Besitzer, die Kerscher Immobilien Holding GmbH, war jedoch genau das überhaupt keine Option. Sein Ziel: Das Kraftwerk durch gewerbliche Nutzung revitalisieren.
Dann der Glücksfall: Mit dem Design-Unternehmen Kare fand sich nach zwei Jahren ein Hauptmieter, der von dem Bauwerk begeistert war und der die Idee, einen architektonischen

Glanzpunkt zu schaffen, sofort mittrug. Auch das löste Kopfschütteln aus: „Wir galten als Verrückte“, erinnert sich Jürgen Reiter, neben Peter Schönhofen Gründer und Inhaber von Kare Design. Doch das labyrinth-ähnliche Innere des Kraftwerks, die rauen Wände, der Wechsel von großen Hallen und kleinen Räumen waren genau das, was die Firmenchefs gesucht hatten: die perfekte Kulisse für die Ausstellung ihrer Designmöbel.
Heute, zwei Jahre nach der Eröffnung, erregt das Kraftwerk weltweit Aufsehen. Den Architekten von „Stenger2“ ist eine verblüffende Metamorphose gelungen. Sie haben den Charme des Gebäudes betont, den grauen Klotz in ein architektonisches Schmuckstück verwandelt. Die baulichen Strukturen wurden größtenteils erhalten. Alt und neu gehen fließend ineinander über. Immer noch zu sehen sind zum Beispiel zwei der großen Deckenausschnitte, durch die einst Wärmetauscher geführt wurden. In einem fährt heute ein Glas-Panorama-Aufzug über vier Stockwerke nach oben. Vieles erinnert an die aktive Zeit des Kraftwerks: ein alter Lastenkran, Schalttafeln, Kabel und Isolatoren. Auch die kupferfarbenen Fassadenelemente sind ein Hinweis auf die Geschichte des Bauwerks, das jetzt nicht mehr abgeschlossen ist, sondern ein offenes Buch: Viel Glas erlaubt Blicke nach innen und außen. Außerdem können Gäste des Restaurants „Küche im Kraftwerk“ von der Dachterrasse aus das Viertel aus einer ungewohnten Perspektive bestaunen.
Noch ist die Revitalisierung nicht abgeschlossen. Im Turm wird derzeit noch gebaut, dort

entstehen Büros. Doch schon jetzt haben der Eigentümer und die Architekten ihr Ziel erreicht. Sie haben das Kraftwerk wieder nutzbar gemacht und damit einen Teil der Münchner Industriegeschichte bewahrt. „Vorher war das Gebäude nur eine Maschine, von Ingenieuren entwickelt, völlig rational“, sagt Markus Stenger. Die Verwandlung des Industriekomplexes fand auch die Global Arts Foundation so bemerkenswert, dass sie die „Stenger2“-Architekten einlud, ihr Projekt mit Fotos und Texten auf der Biennale zu präsentieren. Ihr Beitrag zur 15. Architekturbiennale im Rahmen der Ausstellung „Time, Space, Existence“ sei ein Plädoyer für empirisches Bauen, erklärt Stenger. Nicht die fertige Architektur stehe dabei im Vordergrund, sondern das „Bauen-By-Doing“. Das erfordere von allen Beteiligten deutlich mehr Kraft und Engagement – und mehr Mut.
Der Beitrag „Fearless“, der unter anderem Bilder des Fotografen Sascha Köezsch und die Videoarbeit „Kraftwerk“ der Medienkünstlerin Carmen Donet Garcia zeigt, ist noch bis 27. November im Palazzo Bembo am Riva del Carbon, in Venedig 4793-4785 zu sehen.
Brigitta Wenninger