Andere Fraktionen gehen ähnlich vor. Der Grünen-Abgeordnete Martin Runge hält Bahn und Staatsregierung „geschönte, teils absurd falsche Kostenprognosen und Kostenberechnungen“ vor.
Die Freien Wähler fragen sich, warum sie „als Regierungsfraktion“ erst aus Medien davon erfahren haben, dass die zweite Röhre nach Schätzung des bayerischen Verkehrsministeriums 7,2 statt 3,8 Milliarden Euro kosten soll und statt 2028 erst 2037 fertig wird. Sie nennen die Nicht-Kommunikation „ruchlos“ und fordern – um künftig Transparenz zu gewährleisten – eine parlamentarische Baubegleitkommission. Für Bayerns Verkehrsminister Christian Bernreiter (CSU) steht fest, dass die Politik nun „volle Controlling-Möglichkeiten“ haben muss.
Es wäre allerdings nicht die erste Expertenrunde, die nun eingesetzt wird. Der Stammstreckenbau wird, wenig bekannt, seit Jahr und Tag von einer ganzen Riege teils namhafter Professoren und Experten begleitet – in mehreren regelmäßig tagenden Zirkeln. Schon vor Baubeginn segnete 2016 eine vom damaligen Verkehrsminister Joachim Herrmann (CSU) eingesetzte Expertengruppe bei der Obersten Baubehörde, der auch Vertreter der Autobahndirektion Südbayern und des Bayerischen Bauindustrieverbands angehörten, alle damals vorliegenden Zahlen als „sachgerecht“ ab.
Im Oktober 2017, ein halbes Jahr nach dem Baubeginn, setzte der damalige Stammstrecken-Bauleiter der Bahn ein sogenanntes Spezialistengremium ein. Fünf Professoren und ein promovierter Ingenieur, allesamt Experten für Grundwasserhaltung und Baubetrieb, Geotechnik oder Bodenvereisung, treffen sich seitdem alle sechs Monate, hinzu kommen noch „unregelmäßig aufgabenbezogene Abstimmungsrunden“, wie die Bahn unserer Zeitung bestätigt.
Ziel ist es, so heißt es in einer Stellungnahme der Spezialisten vom April 2020, die unserer Zeitung vorliegt, das Baukonzept „im Sinne eines second-view zu bewerten“ und die „Planung weiter voranzubringen“. Sprecher des Gremiums ist Prof. Dr.-Ing. Martin Ziegler aus Aachen, der sich „aufgrund des mit der DB bestehenden Vertragsverhältnisses“ gegenüber der Presse nicht äußern mag. Auffallend ist indes, dass die Spezialisten 2020 Planungsänderungen befürworteten, die den Bau mutmaßlich extrem verteuert haben: etwa den Einbau einer Rettungsröhre, die parallel zu den beiden Fahrröhren der zweiten Stammstrecke durch die Erde getrieben werden soll; sowie die Integration eines Bahnhofs für die noch zu bauende U-Bahn-Linie 9 unter dem Hauptbahnhof.
In einer Sitzung des Verkehrsausschusses im Landtag Mite Juli sprach Bayerns Bahnchef Klaus-Dieter Josel von einer schwierigen „Pionierarbeit in der Tiefe“, die das Projekt ins Trudeln gebracht habe. Vor zwei Jahren klang das noch ganz anders. In der Stellungnahme der Spezialisten vom 26. April 2020, die von allen sechs Fachleuten unterzeichnet wurde, wurden die Änderungen als „Optimierungen“ verkauft. Sie führten „zu einer Minimierung der Eingriffe in das Stadtgebiet“, erhöhten „die Leistungsfähigkeit der Stationen“ und brächten „zum Teil erhebliche Vereinfachungen des Bauablaufs mit sich“.
Haben sich die Experten also getäuscht? Vielleicht nicht nur sie. Im Mai 2019, zwei Jahre nach Baubeginn, begann ein weiteres Gremium seine Arbeit: die sogenannte Baubegleitung. Dies ist eine Runde aus fünf Fachleuten, die der damalige Verkehrs- und Innenminister Joachim Herrmann (CSU) berufen hatte. Das Gremium tagt regelmäßig, zuletzt am 7. April dieses Jahres. „Bisher fanden sieben Ergebnisvorstellungen statt, in der Regel alle drei bis sechs Monate“, teilt das Verkehrsministerium mit. Einen Austausch mit dem Spezialistengremium gibt es demnach erstaunlicherweise aber nicht
Hinweise auf die Schieflagen bei der zweiten Stammstrecke müssen die Experten sicherlich erhalten haben. Schon im Oktober 2020 erschien unsere Zeitung nach Hinweisen aus dem Verkehrsministerium auf dem Titel mit dem Bericht „2. Stammstrecke: Zeitplan wackelt“, wonach als Termin der Fertigstellung nun 2032 (statt 2028) im Raum stehe. Die damalige Verkehrsministerin Kerstin Schreyer (CSU) dementierte nicht, sondern verwies auf die Bahn. „Sie ist dabei, den Zeitplan zu ermitteln. Danach müssen wir sehen, was das bedeutet.“
Die Bahn prüft übrigens immer noch: Erst im Oktober will sie einen eigenen Zeit- und Kostenplan vorlegen. Wie die Augsburger Allgemeine berichtete, gibt es aber Zwischenergebnisse. In einem Schreiben vom 25. September 2020 nannte die DB ein Bauende 2034 und eine Kostensteigerung auf 5,2 Milliarden. Die Informationen sind demnach sogar zu Ministerpräsident Markus Söder (CSU) vorgedrungen, der auf Nachfrage unserer Zeitung aber von „Mutmaßungen“ und „Spekulationen“ spricht.
Der Grünen-Abgeordnete Martin Runge verliert langsam den Überblick. Nach seinen Informationen gab es für einzelne Baulose auch noch eine aus Fachbüros bestehende „Ingenieurgemeinschaft 2. Stammstrecke“. Zudem trifft sich, wie eine Grünen-Anfrage im Landtag erbrachte, regelmäßig ein Lenkungskreis, bestehend aus DB, Verkehrsministerium (Bund und Land) und Eisenbahn-Bundesamt. Noch am 12. Mai tagte die Runde. Runge: „Die Frage ist jetzt, warum keines dieser Gremien Alarm schlug“. DIRK WALTER