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„Die Kids drehen durch“: Münchner Lehrerin fordert Ende des Fernunterrichts

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Tina Uthoff, Lehrerin aus München
Schluss mit Fernbeschulung! Tina Uthoff, Lehrerin aus München hat eine Petition gestartet. © privat

Schluss mit der Fernbeschulung! Diese Forderung erhebt die Lehrerin Tina Uthoff in einer Petition an die deutschen Kultusminister.

München - Uthoff, selbst Mutter einer zwölfjährigen Tochter, setzt sich schon seit Jahren für freies Lernen und kindgerechte Bildung ein. Sie sei in den vergangenen Tagen von vielen Eltern um Rat und Hilfe gebeten worden, erzählt die 45-Jährige. Mit ihrer Petition will Tina Uthoff nun auf Lehrerverband und Kultusministerium einwirken und ein Umdenken in Gang bringen.

Homeschooling während Coronavirus: „Neue Lerninhalte erklären sich nicht von selbst“

Der Münchner Pädagogin und Frau des Kabarettisten Max von Uthoff geht es nicht nur darum, Druck aus den Familien zu nehmen. Sie hält die „Fernbeschulung“, wie sie es nennt, auch pädagogisch und didaktisch für fragwürdig. „Neue Lerninhalte erklären sich nicht von selbst“, schreibt sie. Das erfordere „fundiertes Hintergrundwissen, Zeit und pädagogisches Verständnis“. Dem seien viele Eltern nicht gewachsen. „Nicht jedes Kind hat Eltern, die schulische Inhalte verstehen und vermitteln können. Konzentration und Leistungsfähigkeit werden unmöglich, wenn eine ganze Familie auf engstem Raum zusammenlebt.“

Außerdem sei die Fernbeschulung schon im Ansatz unfair: „Je nach Ausstattung der Schule werden die Arbeitsmaterialien per Download oder E-Mail angeboten, die Plattformen brechen immer wieder zusammen, die Schüler können Kontakt zu den Lehrern aufnehmen oder nicht, manche erhalten Online-Tuturials, andere nicht. Nicht jedes Kind hat zu Hause Zugang zum PC – gerade wenn auch die Eltern daran arbeiten müssen.“ Die Verlierer, so gibt Uthoff zu bedenken, seien „Kinder, die aus bildungsfernen Familien kommen“. Kinder mit Migrationshintergrund würden „noch mehr benachteiligt als es laut der Pisastudie sowieso schon geschieht“.

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Mit dieser Sorge steht Uthoff nicht allein da. „Die Befürchtung haben auch wir“, sagte Henrike Paede, stellvertretende Vorsitzende des Bayerischen Elternverbands. In ihrer Geschäftsstelle stehen die Telefone nicht still. „Es ist furchtbar. Viele Eltern sagen, sie seien überfordert“, berichtet eine Mitarbeiterin. „Wir versuchen die Eltern zu briefen, ihren Kindern eine Struktur für den Tag zu geben.“

Coronavirus: Schüler sollen nicht sich selbst überlassen werden

Das kommt Uthoffs Zielen entgegen. Auch sie will die Kinder nicht einfach sich selbst überlassen. Doch es solle keine Pflichtaufgaben und keine Leistungserwartung geben. Statt vorauszulernen und dabei zu riskieren, dass die Unterschiede im Wissensstand immer größer werden, solle man die Zeit nutzen, den bereits gelernten Stoff zu vertiefen, fordert sie. Auch freiwilliges projektorientiertes Arbeiten biete sich an. Lehrkräfte sollten jetzt in engem Kontakt mit den Elternhäusern als Berater zur Verfügung stehen – „mit dem Ziel, das körperliche und seelische Wohl der Kinder im Auge zu behalten“. Es solle keine Jahresnote geben, und sobald die Schulen wieder öffnen, solle an die Lerninhalte vom 13. März angeknüpft werden.

Aus dem Kollegenkreis erfahre sie großen Zuspruch, berichtet Uthoff. „Die leiden ja selbst unter der momentanen Situation.“ Auch mancher Kommentar von Unterzeichnern bestärkt sie in ihrem Engagement. „Für alle Alleinerziehenden, die im Homeoffice arbeiten und nicht noch ‚nebenbei‘ ungeschult unterrichten können“, schrieb da eine Mutter. „Die Kids drehen durch“, berichtet eine andere.

Coronavirus: Münchner Mutter berichtet über Homeschooling

Eine Münchner Mutter schildert unserer Zeitung grundlegende Probleme mit dem Homeschooling: Woher solle man Platz und Material nehmen, wenn die Eltern im Homeoffice arbeiten? Man brauche Drucker, wenn möglich mehrere Rechner und Tische. Und vor allem: „Die Psyche der Kinder wird völlig vernachlässigt.“ Es sei doch klar, dass sie die Sorgen und Nöte der Eltern in der Corona-Krise mitbekommen. „Das alles fördert nicht die Konzentration. Bei der Fülle der Aufgaben bleibt zudem keine Zeit, gemeinsam auch mal etwas Schönes zu machen. Und genau das wäre jetzt so wichtig.“

Das Kulturministerium bezieht nur zu einem Teil der Sorgen Stellung: Die Eltern sollten keine „Hilfslehrer“ sein. „Also keine enge, andauernde Begleitung beim Lernen und Üben, keine schnellen Antworten oder Lösungen bei Fragen und Aufgabe.“ Entscheidend sei, dass Eltern „einen häuslichen Rahmen schaffen, in dem das Kind gut lernen kann“. Diese Rolle könnten alle Eltern erfüllen, unabhängig von ihrem sozialen Stand und ihrem Bildungshintergrund. „Und das darf die Schule auch verlangen.“ Die Lehrkräfte sollten die Anforderungen so gestalten, dass die Schüler diese eigenständig erledigen können.

Coronavirus: Kinder in außergewöhnlicher psychischer Situation

Aufmunternde Worte hat immerhin Dominik Blanz, der Schulleiter des Willi-Grafs-Gymnasiums in München, geschrieben – angesichts zahlreicher Mails besorgter Eltern: „Ein absolut zentraler Aspekt ist die psychische Situation Ihrer Kinder, die mit diesem außergewöhnlichen und massiv irritierenden Geschehen fertig werden müssen. Dazu benötigen sie Zeit, Gespräche und Fürsorge. Sie sollen erledigen, was sie schaffen und gerne machen. Und wenn dann einmal etwas nicht erledigt wird, ist das eben so. Dies ist aber kein Freibrief, faul zu sein.“

Tina Uthoffs Petition hatte bis gestern im Internet knapp 100 Unterschriften gesammelt – weit entfernt von den 100 000 Unterstützern, die die Initiatorin selbst für nötig hält, um das Kultusministerium zu beeindrucken. Doch immerhin ist sie mit ihrem Anliegen schon bis zur Spitze des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) vorgedrungen. Deren Präsidentin habe mit ihr telefoniert, berichtet Uthoff. Sie teile zwar nicht alle Forderungen und Argumente der Petition, habe sie aber innerhalb des BLLV verbreitet.

Das, so sagt Uthoff, sei schon ein Anfang.

Die Petition ist auf www.change.org unter dem Stichwort „Fernbeschulung“ zu finden.

Die Sorge um Gewalt gegen Kinder während des Lockdowns wächst - gleichzeitig taucht eine neue Krankheit bei Kindern auf.

Peter T. Schmidt und Stephanie Ebner

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