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„München hatte Glück“: Bekannter Virologe analysiert die Corona-Krise

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Virologe Prof. Alexander Kekulé
Virologe Prof. Alexander Kekulé bei einer ZDF-Talkshow. © Screenshot ZDF Talkshow Markus Lanz

Der erste Coronavirus-Fall in Deutschland wurde Ende Januar in München registriert. Das scheint lange her. Virologe Prof. Alexander Kekulé warnte schon damals vor einer Corona-Krise.

München - Er gehört zu jenen führenden Wissenschaftlern, die sehr früh vor dem herannahenden Corona-Tsunami gewarnt hatten: Bereits am 22. Januar – also vor über zwei Monaten – forderte Professor Dr. Dr. Alexander Kekulé (61) umfangreiche Abstrichtests und Kontrollen bei der Einreise nach Deutschland. Fünf Tage später meldete die bayerische Gesundheitsministerin Melanie Huml den ersten Fall in Deutschland, einen Mitarbeiter der Firma Webasto im Landkreis Starnberg. Inzwischen rollt längst eine Todeswelle über die Welt. Trotzdem ist das öffentliche Leben erst Mitte März heruntergefahren worden, als sich unser Land bereits fest im Würgegriff des Virus befand. Hätten unsere Politiker diese Entwicklung verhindern können? Und was muss jetzt geschehen, damit uns ein ähnliches Schreckensszenario wie in Italien erspart bleibt? „Es sind wahnsinnig schwere Entscheidungen zu treffen, die unser Leben verändern werden“, weiß Prof. Kekulé. In unserem großen Report erklärt der Top-Virologe von der Uni-Klinik Halle die Zusammenhänge:

1. Das Massensterben in Italien

Kein Land trifft Covid-19 momentan so hart wie Italien – und speziell die Lombardei. „Sie haben die Infektionswelle einfach viel zu spät bemerkt. In Italien gab es wahrscheinlich schon über 1000 Fälle, bevor sich die Behörden überhaupt mit dem Thema beschäftigt haben“, sagt Kekulé.

Dass dort im Vergleich zu allen anderen Ländern so viele Menschen an der Lungenerkrankung sterben, hänge mit der hohen Dunkelziffer an Betroffenen zusammen. „Ich gehe davon aus, dass in Italien bis zu zehn Mal so viele Menschen mit dem Virus infiziert sind wie offiziell bekannt.“

Auch seien die Sperrgebiete, in denen sich das Virus anfangs explosionsartig ausgebreitet hatte, nicht weit genug ausgedehnt worden. „Tatsächlich waren die stark betroffenen Regionen wesentlich größer, doch es wurde nur ein viel zu kleiner Teil des Hochrisikogebiets erkannt“, erklärt Kekulé. Dazu kommt, dass viele Italiener in Großfamilien leben – mit Oma und Opa unter einem Dach. Hier herrscht naturgemäß eine höhere Ansteckungsgefahr.

Die Zahl der besonders gefährdeten älteren Menschen ist in Italien höher als in Deutschland. „Als auf einen Schlag so viele Patienten in kritischem Zustand ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten, war das italienische Gesundheitssystem schnell am Limit“, weiß Kekulé. Zum Vergleich: In Deutschland gibt’s – bezogen auf die Einwohnerzahl – zweieinhalb mal so viel Intensiv­betten wie in Italien und auch wesentlich mehr Beatmungsgeräte.

Ein weiterer Grund für die hohe Todesrate im Stiefel-Staat könnte sich allerdings auch in der Systematik der Sterbestatistik finden. So ist in vielen Fällen unklar, ob die oft hochbetagten italienischen Opfer tatsächlich an Covid-19 oder nicht eher an den Folgen einer Vorerkrankung wie schweren Herzproblemen oder Lungenleiden gestorben sind.

2. Die Entwicklung in München

In der Landeshauptstadt gibt’s viele Fälle, aber bislang vergleichsweise wenige Tote zu beklagen. „Die Bayern hatten schlichtweg Glück“, sagt Kekulé, „die Bombe hätte beispielsweise auch in München und Umgegung hochgehen können.“ Seine Erklärung: Auch in der Isar-Metropolregion sitzen viele Unternehmen, die – ähnlich wie viele Betriebe im Großraum Mailand – enge Kontakte nach China pflegen. Ein Beispiel heißt Webasto. Mitarbeiter der Stockdorfer Firma steckten sich bei einer chinesischen Kollegin an. „Als die Frau in Deutschland unterwegs war, hat sie bereits fiebersenkende Medikamente eingenommen. Zum Glück hat sie aber dann die Firma relativ rasch informiert.“

Dass das sogenannte Webasto-Cluster* – alle Infizierten kamen damals in Schwabinger Krankenhaus – effektiv isoliert werden konnte, sei vor allem dem Münchner Gesundheitsamt zu verdanken, lobt der Top-Virologe: „Wie minutiös die Behörde die Kontakte der Infizierten zurückverfolgt hat, ist ein Exempel für gelungenes Krisenmanagement. Das war wirklich ein Meisterstück.“

Zur Wahrheit gehört aber auch: Hätte es sich bei der hochinfektiösen Chinesin nicht um eine Geschäftsfrau gehandelt, sondern beispielsweise um eine Städtetouristin, dann wäre die Ausbreitung des Virus wohl kaum zu kontrollieren gewesen. „Ich glaube nicht, dass eine kranke Urlauberin nach ihrer Rückkehr nach China vorsorglich das Münchner Gesundheitsamt in der Schwanthaler Straße angerufen hätte. Einreisekontrollen am Flughafen gab es zu diesem Zeitpunkt nicht, obwohl ich diese längst angemahnt hatte“, kritisiert Kekulé.

Aktuelle Entwicklungen über die Corona-Krise in München* können Sie hier verfolgen.

3. Söders Strategie in der Corona-Krise

In Kekulés Augen hat zwar auch Dr. Markus Söder erst spät auf die Warnungen im Zusammenhang mit der Pandemie reagiert, aber der Top-Virologe zeigt auch Verständnis für den Ministerpräsidenten: „Mich kann man nicht abwählen, Herrn Söder dagegen schon. Als Wissenschaftler bin ich ja nur ein Schachspieler, der Politikern sagt, welchen Zug ich an ihrer Stelle als nächstes machen würde. Aber Herr Söder ist ja nicht der König von Bayern, der autoritär regiert wie er will. Er muss auch abwägen zwischen verschiedenen Aspekten, etwa wirtschaftlichen Interessen. Und er muss Mehrheiten für solche starken Einschränkungen der Freiheitsrechte finden – nicht nur in den politischen Gremien, sondern auch in der Bevölkerung.“

Vor diesem Hintergrund habe Söder seine Sache gut gemacht, so Kekulé weiter. „Er fährt bis heute die richtige Linie: Auf der einen Seite setzt er klare Ausgangsbeschränkungen durch, auf der anderen Seite lässt er den Menschen aber die Freiheit, noch rauszugehen an die frische Luft. Das ist wichtig.“

Zur Kritik, der bayerische Ministerpräsident sei bei den Restriktionen unnötigerweise vorgeprescht, entgegnet Kekulé: „Ich halte es für höchst fraglich, ob die anderen Bundesländer ohne Söders Alleingang so schnell auf die richtige Linie eingeschwenkt wären. Insofern hat Söder eine Blaupause für die anderen Länder vorgelegt.“
In Bayern gilt wegen des Coronavirus eine Ausgangsbeschränkung - jetzt bis zum 19. April. Söder verlängerte die Maßnahmen am 30. März. 

4. Die Chance auf eine baldige Entspannung in Bayern

Ob die Restriktionen etwas gebracht haben, zeigt sich nach Einschätzungen des Top-Virologen frühestens Mitte April. „Ein Effekt stellt sich erst nach zwei bis drei Wochen ein, und anschließend brauchen wir noch mindestens eine weitere Woche, um alle wichtigen Daten zu sammeln und auszuwerten“, erklärt Kekulé. „Insofern glaube ich persönlich nicht daran, dass Schulen und Kindertagesstätten in Bayen direkt nach den Osterferien wieder öffnen können. Wenn wir Glück haben und die Zahl der Infektionen deutlich zurückgeht, können wir eine Woche nach Ferienende mit ersten Lockerungen beginnen.“ Er könne die Bevölkerung nur bitten, die Füße noch so lange still zu halten. Das gelte im übrigen auch für Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger, der auf eine baldige Lockerung der Restriktionen drängt.

5. Die kritische Phase nach dem Ausgangsstopp

Dafür hat der Wissenschaftler ein Konzept vorgelegt. Im Kern steht Smart Distancing (also kluges Distanz halten) als Ersatz für die derzeitigen Ausgangsbeschränkungen. Die Idee dahinter: den gesellschaftlichen Alltag wieder hochfahren und dabei effektive Schutzvorkehrungen ergreifen. Dazu gehört ein ganzes Maßnahmenbündel: „Besonders wichtig wäre es, dass Menschen, die nicht zusammen wohnen, einen Mindestabstand von zwei Metern streng einhalten.“ Zudem müssten Risikogruppen – etwa in Alten- und Pflegeheimen – besonders geschützt werden.

„Um die Infektionsketten zu unterbrechen, müssen im Eiltempo die Kapazitäten der vorhandenen Untersuchungsverfahren erhöht und zusätzlich Schnelltests entwickelt werden. Die Menschen, die sich mit Covid-19 infiziert haben, sind in der Regel nur wenige Tage infektiös. Mit einem Schnelltest für zu Hause – ähnlich wie für eine Schwangerschaft – könnte sich jeder selbst anonym testen und sich bei einem positiven Ergebnis freiwillig isolieren. Einen solchen Test herzustellen, ist aus wissenschaftlicher Sicht kein Hexenwerk“, betont Kekulé.

Das Ermutigende an seinem Vorschlag: Es wäre künftig gar nicht mal erforderlich, jede Covid-19-Ansteckung außerhalb der Risikogruppen zu vermeiden. „Selbst wenn wir es schaffen würden, nur zwei Drittel der Infektionen zu vermeiden, wäre die Epidemie bald vorbei.“

6. Die Gefahren und Schutzmaßnahmen im Alltag

Zusätzlich wirbt der Virologe dafür, dass möglichst jeder im näheren Kontakt mit anderen Menschen eine Schutzmaske tragen sollte.„Eine einfache OP-Maske reicht – und zur Not auch ein einfaches Tuch“, sagt Prof. Kekulé. „Wissenschaftliche Daten unter anderem aus Hongkong zeigen nämlich, dass selbst einfache Masken nicht nur andere Menschen vor Ansteckung schützen, sondern auch den Träger selbst.“

Der Hintergrund: Corona wird hauptsächlich durch feine Tröpfchen übertragen. Sie entstehen aber nicht nur beim Husten, sondern auch beim Sprechen. Anschließend müssen sie jedoch auf die Schleimhäute gelangen, die sich in Nase, Mund und Augen befinden. „Das kann eine Maske – am besten in Kombination mit einer einfachen Brille – weitgehend verhindern“, erläutert der Virologe. Für diese einfache Schutzmaßnahme will er künftig verstärkt werben. Wer keine Maske mehr ergattere, könne solch einen Schutz aus alten Baumwoll-T-shirts oder Bettlaken selbst basteln.

Gegen Spaziergänge und Sporteln im Freien sei allerdings – bei Einhaltung des Mindestabstands von zwei Metern – nichts einzuwenden. Im Gegenteil: „Bewegung an der frischen Lust ist sowohl aus körperlicher als auch aus psychischer Sicht wichtig“, betont Kekulé – und warnt zugleich vor übertriebener Panik: „Dass man sich bei einem Jogger, der auf der anderen Straßenseite vorbeiläuft, ansteckt, ist äußerst unwahrscheinlich.“

Coronavirus - Schutzmasken selbst gemacht
Coronavirus - Schutzmasken selbst gemacht. © dpa / Sven Hoppe

7. Die Konsequenzen für unseren Alltag

Eine Lockerung der Restriktionen müsse gut durchdacht sein. „Man kann sich das vorstellen wie bei einer Vollbremsung mit dem Auto. Man sollte erst dann mit dem Lenkrad sachte nachjustieren, wenn die Geschwindigkeit deutlich verlangsamt ist.“ Das heißt übersetzt: zunächst nicht die gesamte Wirtschaft hochfahren, sondern stufenweise einzelne Bereiche. Außerdem komme jedem einzelnen eine noch größere Verantwortung zu als bisher. „Es kann dann beispielsweise keine lässliche Sünde mehr sein, wenn man seine Kinder hustend und fiebernd in die Schule oder in den Kindergarten schickt“, mahnt Prof. Kekulé.

Andreas Beez

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