Die Folgen der Corona-Krise: So wird sich unser Leben nach der Pandemie verändern - Experten mit Einschätzung

Die Corona-Pandemie wird uns noch eine ganze Weile begleiten. Und was kommt danach? Experten geben ihre Einschätzung und erwarten tiefgreifende Veränderungen.
München - Corona hat München* weiter im Griff, am Donnerstag meldete die Stadt 341 neue Corona-Fälle und einen weiteren Todesfall. Die 7-Tage-Inzidenz beträgt laut RKI 113,1, das Bayerische Landesamt für Gesundheit meldet einen Wert von 129,4. Die Zahlen haben für viele Menschen Folgen: Homeoffice, geschlossene Schulen, kaum soziale Kontakte.
Wie verändert Corona* unseren Alltag - und was bleibt von diesen Veränderungen nach der Krise? Wie wird sich die Gesellschaft entwickeln, gibt es Auswirkungen auf den öffentlichen Nahverkehr, was bedeutet die Krise für das Ernährungssystem? Diesen Fragen geht die tz hier auf den Grund.
Corona-Krise in München: Auswirkungen auf das Arbeitsleben - Folgen für Unternehmen
Wie verändert sich das Arbeitsleben durch Corona? Forscher der TU München, der RWTH Aachen und der TU Dresden sind dieser Frage im Rahmen eines gemeinsamen Projektes nachgegangen. Bisher haben die Wissenschaftler 28 Interviews in 16 Unternehmen durchgeführt. In allen Gesprächen wurde klar, dass durch die Kontaktbeschränkungen* alle Firmen ihre Arbeitsweisen überdenken mussten. Neue Arbeitsschutzmaßnahmen mussten eingeführt, mobile Arbeitsformen geschaffen werden.
„Dieser Umstieg führte über alle Unternehmen hinweg zu neuen Spannungsfeldern“, heißt es in einem Quartalsbericht des Projekts. In vielen Unternehmen sei die digitale Infrastruktur gar nicht für eine derartige Belastung ausgelegt gewesen, die wenigsten Firmen hätten ausreichend technologische Mittel zur Verfügung gehabt.
Corona-Krise in München: Auswirkungen auf das Arbeitsleben - Nutzung virtueller Brillen
Im Verlauf der Pandemie zeigt sich jedoch auch, dass einige Unternehmen gut und zunehmend besser mit der veränderten Situation zurechtkommen. Viele nutzen die Gelegenheit, neue Arbeitsweisen gezielt zu erproben und so eine Verbesserung bestehender Abläufe anzustreben. Bei der Produktpräsentation oder für Wartungsarbeiten etwa setzen Unternehmen vereinzelt etwa auf virtuelle Brillen.
Man wolle gar nicht erst versuchen, die vorherige Arbeitsweise eins zu eins virtuell zu simulieren, heißt es in dem Bericht. Man müsse sich immer wieder fragen: Wie können Arbeitsweisen anders ablaufen, welche Möglichkeiten ergeben sich über die virtuelle Kommunikation?
Corona-Krise in München: Auswirkungen auf die Gesellschaft - sowohl Solidarität als auch Egoismus
Rücken wir wegen der Pandemie mehr zusammen oder fokussieren sich die Menschen mehr auf sich selbst? „Im Verlauf der Krise haben wir beides gesehen: ungewöhnliche Solidarität wie auch Egoismus“, sagt Jan Wetzel vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
Die Diskussion darüber kranke aber daran, dass sie das Verhalten des Einzelnen ins Zentrum stellt und moralisch auflädt. „Stattdessen müssen wir mehr über die Institutionen der Solidarität sprechen. Erinnern wir uns an den öffentlichen Applaus für die Menschen in systemrelevanten Berufen: Welche politischen Maßnahmen sind dem bisher gefolgt?“
Ähnlich gehe es Familien. Ihnen sei deutlich bewusst geworden, dass intime Nähe dauerhaft nur möglich ist, wenn sie einen Ausgleich findet: Sei es der Wechsel von Arbeitsplatz und Privaträumen, der Kindergarten, die Schule oder der Sportverein. „Fehlen diese Strukturen des Alltagslebens, wird die Nähe schnell zur Last.“
Corona-Krise in München: Auswirkungen auf die Gesellschaft - Homeoffice nicht für jeden Bürger machbar
Wie sinnvoll ist denn in dem Zusammenhang Homeoffice und Homeschooling? Wichtig sei, die konkreten Lebenslagen zu unterscheiden, die den Alltag der Menschen bestimmten. „Zunächst ist festzuhalten, dass nur etwa ein Drittel der Beschäftigten überhaupt die Möglichkeit zum Homeoffice hat, es also um eine Minderheit geht“, sagt Wetzel.
Diese sei privilegiert darin, ihren Alltag flexibler gestalten zu können, und sei es nur, das Kind zum Arzt bringen zu können, ohne dafür Urlaub nehmen zu müssen. „Die Herausforderung liegt eher darin, dass man ohne den persönlichen Kontakt im Betrieb oder Büro eine viel geringere Chance hat, Menschen zufällig kennenzulernen. So fehlt der Austausch - was nicht zuletzt auch dem Unternehmen selbst schaden kann.“
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Corona-Krise in München: Auswirkungen auf den Handel - vor Ort oder Online?
Nach der Corona-Krise wird der inhabergeführte, stationäre Handel nur überleben, wenn er sich - gerade auch mit Blick auf die Online-Konkurrenz - auf seine klassischen Stärken besinnt. Das sagt Bernd Ohlmann vom Handelsverband Bayern. „Service, Qualität und Beratung sind die Trümpfe. Viele Kunden haben in der Pandemie ihren Händler vor Ort sozusagen wiederentdeckt und ihn unterstützt. Diese Vorschusslorbeeren gilt es nun durch neue, innovative Konzepte zurückzuzahlen.“
Die befürchtete Pleitewelle sei zumindest bislang ausgeblieben. Aber auch in München würden Filialen geschlossen oder Verkaufsflächen verkleinert. „Durch den boomenden E-Commerce benötigen stationäre Geschäfte nicht mehr so viel Platz. Deshalb werden Einzelhandelsgeschäfte in der Tendenz künftig kleiner werden.“

Corona-Krise in München: Auswirkungen auf die Gesellschaft - Online-Handel boomt
Dabei stand der klassische Einzelhandel in München schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie unter Druck. Insbesondere kleine Fachbetriebe und selbstständige Kaufleute hätten vermehrt ihre Läden geschlossen. „Corona war nur ein Brandbeschleuniger für die dramatische Entwicklung. Die Branche kämpft bereits seit vielen Jahren mit einem tiefgreifenden Strukturwandel. Der Siegeszug der Online-Händler setzt sich seit Corona erdrutschartig fort“, sagt Ohlmann.
Die Pandemie habe nun auch den letzten Händler aufgerüttelt, der vorher noch eine Online-Allergie hatte. „Das Coronavirus hat der Digitalisierung des Handels einen enormen Schub gegeben. Über 80 Prozent der Münchner Einzelhändler haben mittlerweile eine Website, rund ein Drittel verkauft online. Tendenz steigend.“
Corona-Krise in München: Auswirkungen auf die Schulen - eine Rückkehr zum Status Quo vorgesehen
Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) will die Chance nutzen, Schule und Bildung grundsätzlich neu zu denken. „Denn mit der Krise steht auch plötzlich die Frage im Raum, was Schule eigentlich leisten soll, worin ihr Bildungsauftrag besteht“, sagt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. „Wir wollen nach Corona nicht zum Status Quo zurückkehren und weitermachen wie bisher.“
Viele Fragen könnten jetzt neu diskutiert werden, etwa ob immer schnelleres Lernen, mehr Wettbewerb und höherer Leistungsdruck wirklich das Ziel sein müsse. „Wir sagen ganz klar: Lernen ist ganzheitlich. Deshalb ist Motivation so wichtig, aber auch individuelle Förderung und kompetenzorientierte Lehrpläne. Nur so erziehen und bilden wir selbstständige, kreative und teamfähige Kinder, die die Gesellschaft von morgen gestalten und für deren Herausforderungen gewappnet sind.“
Corona-Krise in München: Auswirkungen auf die Schulen - soziales Miteinander wichtig
Für das Umdenken brauche es Zeit und vor allem einen Diskurs innerhalb der Gesellschaft. „Der hat jetzt begonnen und sollte unbedingt fortgesetzt werden“, sagt Fleischmann. Dass Unterricht künftig nur noch digital stattfindet, glaubt sie nicht. „Schule lebt in erster Linie von Beziehung, vom sozialen Miteinander.“
Das sei zwar nicht zwangsläufig an einen realen Ort gebunden und könne auch im Zusammenspiel zwischen Präsenz- und Distanzunterricht stattfinden. „Dennoch sind wir davon überzeugt, dass Schulen als echter Lebens- und Erfahrungsraum in ihrer Wichtigkeit unangetastet bleiben.“
Corona-Krise in München: Auswirkungen auf den Verkehr - schwenken Autofahrer wieder auf ÖPNV um?
Offen ist, wie sich der Verkehr nach der Pandemie entwickeln wird. Laut einer Umfrage des Mobilitätsdienstleisters Toogethr unter 547 Münchnern hatten fast zwei Drittel aller Befragten (64 Prozent) den ÖPNV in der Pandemie gemieden. Für Nach-Corona planen 58 Prozent, das eigene Auto für den Arbeitsweg zu nutzen. „Es wird spannend, ob die Verkehrsteilnehmer von selbst wieder auf den öffentlichen Personennahverkehr* umsteigen, etwa wegen der Kosten. Oder ob die Politik den Umstieg weiter unterstützen muss“, sagt Verkehrsforscher Klaus Bogenberger von der TU München.
Es sei vielen Verkehrsteilnehmern durch Corona erst klar geworden, dass man sich im überfüllten ÖPNV anstecken könne. „Es bleibt abzuwarten, ob wir dort eventuell temporäre Verlagerungen sehen werden, zum Beispiel während Grippewellen.“ Bogenberger glaubt, dass Homeoffice ein fester Bestandteil des Arbeitsalltags bleiben werde und dass sich dieser Umstand positiv auf die Reduzierung des Gesamtverkehrs auswirken werde.
Abnehmen werde auch der Business-Flugverkehr, glaubt der Verkehrsforscher. An Bedeutung gewinnen werde indes das gute alte Fahrrad*. „Das Rad wird langfristig im urbanen Raum eine sehr wichtige Rolle einnehmen - übrigens wegen der Lastenräder auch für Besorgungsverkehr und im kleinen Lieferverkehr.“

Corona-Krise in München: Auswirkungen auf das Gesundheitssystem - Klinik-Chef erläutert das Problem
Die Pandemie habe verdeutlicht, dass das Gesundheitssystem viele Krankenhäuser in Deutschland selbst krankmacht, sagt der Chef der München Klinik, Axel Fischer. „Systemrelevante Versorgung kommt darin einfach zu kurz.“ In München könne man in vielen Kliniken Hüftprothesen bekommen, aber für ein schwer krankes Kind gebe es nur eine Handvoll Kinderkliniken. „Weil das eine sich wirtschaftlich lohnt und das andere defizitär ist.“
Die Corona-Versorgung sei eine neue Säule der Daseinsvorsorge. „Ich hoffe sehr, dass die Politik auch nach der Bewältigung der Krise Wort hält und das Gesundheitssystem auf die tatsächlichen gesellschaftlichen Bedürfnisse ausrichtet.“ Gerade die Versorgung der Kinder, die Notfallversorgung, Geburten und auch die Altersmedizin müssten besser vergütet werden.
Ferner solle sich im Pflegebereich etwas ändern. „Die Pflege braucht mehr Verantwortung, die sich in einer Aufwertung des Berufsbildes und in einer besseren Bezahlung niederschlägt. Wenn wir etwas Positives aus der Krise ziehen können und wollen, dann muss das sein, dass der akute und seit Langem bestehende Handlungsbedarf im Gesundheitssystem sich jetzt hoffentlich bald in politischer Umstrukturierung äußert. Das muss uns die Gesundheit wert sein.“
Corona-Krise in München: Auswirkungen auf die Ernährung - auch Klimawandel wird sich niederschlagen
Corona habe gezeigt, dass das Ernährungssystem krisenanfällig ist, sagt Lucia Rizzo vom Münchner Ernährungsrat. „Regale in Supermärkten wurden leer gekauft und die Lieferketten aus anderen Ländern brachen.“ Dabei sei Covid-19 nur ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen kann. „Der Klimawandel und der Artenschwund werden unser Ernährungssystem treffen.“
Es gelte, jetzt eine radikale Wende einzuleiten, denn indem Lebensräume von Tieren zerstört würden, steige die Wahrscheinlichkeit, dass sich Mensch und Tier zu nahe kommen und sich ein gefährliches Virus auf den Menschen überträgt. Dazu trage die industrialisierte Landwirtschaft ihren Teil bei, wenn Regen- und Urwälder gerodet würden. Dazu komme, dass durch die Züchtung der Nutztiere Immunschranken beseitigt werden. „Wir brauchen ein neues Verständnis von Landwirtschaft und eine neue Esskultur. Wir müssen wieder lernen, was Regionalität bedeutet und was unsere Region alles zu bieten hat.“
Wichtig dabei: weniger Fleisch, dafür von Betrieben mit extensiver Haltung und mehr pflanzliche Vielfalt. „Viele Öko-Höfe in Bayern zeigen bereits, dass und wie es besser geht“, sagt Lucia Rizzo. Die Politik müsse nun dafür sorgen, dass die Versorgungsstrukturen aufgebaut würden. Logisch: Damit fänden sich in den Wintermonaten keine frischen Himbeeren oder Tomaten mehr im Supermarktregal. „Aber: Einheimisches, frisch geerntetes Wintergemüse ist wahres Superfood! Und das ist in diesen Zeiten wichtiger denn je!“
Corona-Krise in München: Auswirkungen auf den öffentlichen Raum - besonders im Sommer viele Möglichkeiten
Die vergangenen Monate haben viele kreative Ideen an den Tag gefördert, wie öffentlicher Raum neu aufgeteilt werden kann - etwa durch die Schanigärten oder kulturelle Veranstaltungen. „Weil man sich draußen weniger leicht ansteckt und der Sommer ein echter Sommer war, wurde vieles einfach nach draußen verlegt“, sagt OB Dieter Reiter*. Kammerkonzerte im Hinterhof, Kabarett im Freien, Fitness im Park, Freischankflächen statt Parkplätzen und vieles mehr.
Nachdem auch das Oktoberfest und alle anderen Volksfeste nicht stattfinden konnten, hatte sich die Stadt überlegt, wie zum Beispiel den Schaustellern geholfen werden kann. Es entstand die Idee mit dem Sommer in der Stadt. „Ein Riesenrad am Königsplatz - daran hätte in normalen Zeiten sicher niemand gedacht“, sagt Reiter. „Buden und Karussells wurden auf Stadtviertel verteilt, Sand auf dem Platz vor der Oper aufgeschüttet und der Platz zum Stadtstrand umfunktioniert.“
Die gebeutelte Gastronomie hatte so wenigstens einen Teil der Ausfälle aus dem Frühjahr über die erweiterten Freischankflächen im Sommer wieder reinholen können. „Aus Parkplätzen wurden liebevoll gestaltete Restaurantgärten. Und vieles davon werden wir hoffentlich auch nach Corona wiedersehen.“ (ska) *tz.de ist Teil des bundesweiten Ippen-Digital-Redaktionsnetzwerks