Was sagt die Band?
Ende Mai posteten die Musiker auf Twitter zu den Vorfällen in Vilnius: „Wir (können) ausschließen, dass sich, was behauptet wird, in unserem Umfeld zugetragen hat. Uns sind keine behördlichen Ermittlungen dazu bekannt.“ Und wenig später auf Instagram: „Wir verurteilen jede Art von Übergriffigkeit und bitten: Beteiligt euch nicht an (...) Vorverurteilungen (...) denen gegenüber, die Anschuldigungen erhoben haben. Sie haben ein Recht auf ihre Sicht der Dinge. Wir (...) haben aber auch ein Recht – nämlich (...) nicht vorverurteilt zu werden.
Was passiert jetzt?
Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat die Zusammenarbeit mit Till Lindemann aufgekündigt. Seine Gedichte, die er bei dem Verlag veröffentlichte, haben nach den Sex-Vorwürfen neue Brisanz (siehe oben). Ob das Online Pokerportal GG Poker, das kürzlich einen Kunst-Werbefilm mit Lindemann drehte, zu ihm steht, war bis Redaktionsschluss nicht zu klären.
In dem Band „100 Gedichte“ veröffentliche Till Lindemann 2020 den Zehnzeiler „Wenn du schläfst“. Darin beschreibt er genau das, was sich in Vilnius ereignet haben soll: Eine Frau wird betäubt und vergewaltigt. „Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst (...) Etwas Rohypnol im Wein (...) Kannst dich gar nicht mehr bewegen“, lauten einige Verse. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch bestand damals auf der Trennung zwischen Autor und Erzähler, wie sie in der Literatur wissenschaftlicher Standard ist, auch bei gewalttätigen oder pornografischen Texten (z.B. von Henry Miller, Bret Easton Ellis, Charles Beaudelaire). Vergewaltigung im Schlaf wurde unter anderem schon in der deutschen Klassik thematisiert, und zwar in der „Marquise von O.“ von Heinrich von Kleist. Hierbei steht allerdings weniger die Tat selbst als die anschließende ausführliche Auseinandersetzung zwischen Täter und Opfer im Mittelpunkt.
Doch jetzt rückt der Verlag vom Sänger ab, unter anderem weil ihm erst jetzt der drei Jahre alte Lindemann-Gewaltporno „Till the end“ bekannt wurde. Dieser persifliert die gegen Frauen immer brutaler werdenden Themen und Motive der Pornoindustrie - und zitiert dabei ein weiteres Lindemann-Gedicht aus einem älteren Buch des Sängers, ebenfalls erschienen bei Kiepenheuer & Witsch. In einer Erklärung des Verlags von Anfang Juni heißt es genau: „Durch die Frauen demütigenden Handlungen Till Lindemanns im besagten Porno und die gezielte Verwendung unseres Buches im pornographischen Kontext wird die von uns so eisern verteidigte Trennung zwischen dem lyrischem Ich und dem Autor/Künstler aber vom Autor selbst verhöhnt. (...) Aus unserer Sicht überschreitet Till Lindemann für uns unverrückbare Grenzen im Umgang mit Frauen. Wir haben uns daher entschieden, die Zusammenarbeit mit Till Lindemann mit sofortiger Wirkung zu beenden (....).“
Die Vorwürfe seien „ausnahmslos unwahr“, heißt es in einer Stellungnahme der Anwälte. Gegen einzelne Personen, die behaupten, von Lindemann unter Betäubungsmitteln gesetzt und so gefügig gemacht worden zu sein, gehe man nun rechtlich vor. Auch die Berichterstattung vieler Medien werde geprüft und dagegen gegebenenfalls rechtliche Schritte eingeleitet.
Transparenzhinweis vom 8. Juni 2023, 19. 30 Uhr: Dieser Artikel wurde mit den Aussagen von Till Lindemanns Anwälten ergänzt.