Um zu verstehen, um was es eigentlich geht, muss man zunächst den Begriff Mikrosatelliteninstabilität (MSI) erklären. Der komplizierte Begriff zeigt eine Schwäche der Zellen des Betroffenen, Schäden in der Erbsubstanz – der DNA – zu reparieren. Prof. Heinemann erklärt: „Die Zellen sind jeden Tag diversen Angriffen ausgesetzt, im Darm beispielsweise durch in der Nahrung enthaltene Krankheitserreger und Umweltgifte. Bei ungefähr 20 Prozent der Patienten mit Darmkrebs klappt der Mechanismus der Selbstreparatur nicht, das nennt man Mikrosatelliteninstabilität.“ Ein Mensch, bei dem eine Mikrosatelliteninstabilität gegeben ist, erkrankt deshalb auch leichter an Krebs. Denn seine Zellen – die gesunden Körperzellen, aber auch die Krebszellen – sind nicht so gut in der Lage, sich selbst wieder zu reparieren.
Ob eine solche Mikrosatelliteninstabilität gegeben ist, kann man testen – der Preis für so einen Test liegt im zweistelligen Euro-Bereich. Aber liegt Krebs vor, kann dieser Test Leben retten. Denn die moderne Krebsmedizin – in diesem Fall die Immuntherapie – ist in der Lage, genau diese Schwäche auszunutzen und zu ihrem Vorteil umzumünzen. Denn gerade die Krebszellen sind wegen der Mikrosatelliteninstabilität angreifbarer. Doch haben Krebszellen die schreckliche Fähigkeit, das Immunsystem zu umgehen. Indem sie sich tarnen und so für die Immunabwehr nicht mehr sichtbar sind, können sie ungehindert weiterwachsen. Das Immunsystem ist für Tumorzellen also quasi blind.
Und hier kommen die sogenannten Checkpoint-Inhibitoren ins Spiel. Sie sind Mittel der modernen Immuntherapie, die das körpereigene Immunsystem aktivieren, Die Checkpoint-Inhibitoren reißen nun sinnbildlich den Krebszellen die Tarnkappen herunter, sodass das Immunsystem sie erkennt und bekämpft. Das heißt also Folgendes: ein Organismus mit Mikrosatelliteninstabilität hat erst einmal ein deutlich erhöhtes Krebsrisiko. Besteht aber in den Tumorzellen die MSI, dann ist sie wegen der Genschäden für das Immunsystem nach den Immuntherapie besonders deutlich zu erkennen. Insofern ist Krebs bei MSI mit den Mitteln der modernen Immuntherapie sehr gut zu bekämpfen.
Besonders beim Darmkrebs hat hier die Forschung in den vergangenen Jahren immense Erfolge erzielt. Prof. Heinemann erklärt: „Bei Patienten mit festgestellter MSI ist die Immuntherapie mit Checkpoint-Inhibitoren so effektiv, dass man derzeit untersucht, ob zum Beispiel bei Enddarmkrebs (Rektumkarzinom) ganz auf die sonst übliche Behandlung mit Chemotherapie, Strahlentherapie und Operation verzichtet werden kann.“
Die Immuntherapie wird per Infusionen verabreicht. Bei Patienten, bei denen der Krebs gerade erst entdeckt wurde und er noch nicht gestreut hat, macht man in den Krebszentren der beiden Münchner Unikliniken sehr gute Erfahrungen mit der Immuntherapie bei Mikrosatelliten-instabilität (siehe Fall oben von Tobias Haslinger).
Aber auch bei bereits metastasierter Erkrankung zeigen sich große Erfolge. So gelingt es, Tumoren sogar dann in Schach zu halten, wenn sie beispielsweise in die Lymphknoten gestreut haben, wie es im Fall von Elisabeth Mayer (siehe Text unten) der Fall ist. In diesem Fall sind die Immuntherapien auch in Deutschland zugelassen.
Eine ganz neue Studie unter der Leitung von Andrea Cercek aus den USA zeigt sogar völliges Verschwinden der Tumoren bei allen immuntherapeutisch behandelten Patienten, berichtet Prof. Heinemann begeistert. Natürlich aber gibt es hier noch keine Langzeitdaten – man kann noch gar nicht wissen, wie es bei diesen Patienten in fünf Jahren aussieht, also ob der Krebs tatsächlich geheilt wurde.
In Deutschland ist die Immuntherapie für Patienten mit nicht metastasierter Darmkrebserkrankung bislang noch nicht zugelassen. „Möchte man die Immuntherapie in diesen Fällen dennoch einsetzen, handelt es sich um einen sogenannten Off-Label-Use“, erklärt Prof. Heinemann. Hier müssen die behandelnden Ärzte im Vorfeld die Kostenübernahme durch die Krankenkasse beantragen. Und wenn er abgelehnt wird, Widerspruch einlegen. Eine schwierige Situation, da ein Widerspruch begründet werden muss und Zeit kostet. Zudem haben die Krankenkassen mehrere Wochen Zeit, um die Anträge zu bearbeiten. Der Einzige, der keine Zeit hat, ist der Patient oder die Patientin, sagt Prof. Heinemann. Fügt aber hinzu, dass die meisten Kassen inzwischen von den guten Ergebnissen wissen – und sich meist kooperativ zeigen.
Was Prof. Heinemann zudem am Herzen liegt, ist, dass die Menschen, bei denen Darmkrebs diagnostiziert wird, sich testen lassen, ob bei ihnen die MSI besteht. Wenn ja, haben sie sehr gute Chancen, dass die Immuntherapie bei ihnen wirkt.
Susanne Sasse