Ein Gedenktag für die Euthanasie-Opfer

In der Tötungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz wurden während des NS-Regimes mehr als 1000 Frauen, Männer und Kinder aus München getötet, weil sie psychisch erkrankt oder behindert waren. Lange wurden die Morde verschwiegen. Eine Initiative aus München fordert nun einen Gedenktag.
Hartheim – Margareta Flygt, 53, steht in einem Raum im oberösterreichischen Schloss Hartheim. Vor ihr steht eine Glaswand, mit ihrem Finger geht sie durch die endlosen Reihen mit Namen. Irgendwo muss er hier stehen, der Name des Cousins ihrer Mutter: Anton Braun. Sie findet ihn nicht. Es sind einfach zu viele. 23 012 Namen von Frauen, Männern und Kindern sind hier dokumentiert, im ehemaligen Aufnahmeraum der Tötungsanstalt. Insgesamt 30 000 Menschen wurden hier in Hartheim mit Kohlenmonoxid von den Nazis ermordet. Weil sie körperlich und geistig beeinträchtig waren, oder psychisch krank.
Alles begann mit einem Führererlass
Wie Anton Braun in Hartheim. Euthanasie nannten das die Nationalsozialisten zynisch, sprachen offiziell vom „Gnadentod“. In Wahrheit war es Massenmord. Es begann mit einem Führererlass von 1939 mit dem Tarnnamen „T 4“ (siehe Artikel unten). Rund 200 000 kranke und behinderte Menschen wurden auf grausame Weise getötet. 2000 alleine aus München.

Zusammen mit 60 Vertretern aus Psychiatrie, Politik und anderen Angehörigen von Opfern ist Margareta Flygt am vergangenen Freitag von München aus in das baulich wunderschöne Schloss gefahren. Die Gedenkinitiative trifft sich seit 2015 regelmäßig in München.
Nicht nur Angehörige von Opfern sind dabei, die die eigene Familiengeschichte aufarbeiten wollen. Auch Psychiater, Politiker und ehemalige Mitarbeiter von Krankenhäusern fordern mehr Auseinandersetzung mit den Krankenmorden. Sie wollen einen bundesweiten Gedenktag am 18. Januar einführen. 1940 war an diesem Tag die erste Deportation von „Ballastexistenzen“ von der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar bei München in die Tötungsanstalt in Hartheim.
Erste Deportation am 18. Januar 1940
Ein Opfer, das von Haar nach Hartheim deportiert wurde, war Anton Braun, Margareta Flygts Verwandter. Braun wurde im Juli 1910 in München geboren und ging auch dort zur Schule. „Er war sehr ehrgeizig, der beste auf dem Gymnasium, oft in den Bergen“, sagt Flygt, die in Malmö lebt. Sie ist in Schweden geboren, ihre Münchner Mutter ist dorthin ausgewandert. Die Frau mit den kurzen, braunen Haaren, den Armbändern aus Metall und dem melancholischen Blick hat in jahrelanger Arbeit in Archiven, Haushaltsheften und Tagebüchern die Geschichte ihres Vorfahren erforscht und ist dafür in die Vergangenheit gereist. In Schweden hat die Journalistin dazu einen Artikel veröffentlicht.
Anton „Toni“ Braun hatte nach dem Abitur Chemie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München studiert. „Seine Erwartungen an sich selbst waren hoch“, sagt Flygt. Das wurde während der Abschlussprüfungen zum Problem: Er wurde schizophren, hatte immer wieder schwere Schübe. Der junge Student wurde im Krankenhaus in Schwabing behandelt, unter anderem mit Insulin und Cardiazol. Dies löste immer wieder epileptische Anfälle aus, dadurch erhofften sich die Ärzte Besserung. 1936 sterilisierten die Nationalsozialisten den jungen Mann. Ein Jahr später konnte Braun an der Universität in Göttingen zu arbeiten anfangen.

In Göttingen erlitt Anton Braun, damals erst 26 Jahre jung, wieder einen Schub. 1938 wurde er schließlich in die Anstalt Eglfing-Haar eingewiesen. In der Anstalt bekam er 1940 einen Eintrag in seine Krankenakte: „arbeitet nicht“. Die Nazis stigmatisierten ihn als „nutzlosen Esser“. Das Todesurteil für den 30-Jährigen. Am 24. Oktober 1940 deportierten ihn die Nazis aus dem Münchner Umland nach Hartheim. Dort starb er noch am gleichen Tag oder tags darauf, das weiß Margareta Flygt nicht.
Hier zu stehen, in dem ehemaligen Tötungsraum, da, wo ihr Angehöriger vor fast 79 Jahren ermordet wurde, macht sie traurig. „Wäre er damals nicht umgebracht worden“, sagt Flygt, „vielleicht hätte ich jetzt mehr Verwandte.“
Ein Akteneintrag war das Todesurteil
Zu Anton Braun hat sie ein zwiespältiges Verhältnis: Durch ihre Recherchen hat sie erfahren, dass Braun Kontakt zu einer NS-Studentenschaft hatte, in Briefen verabschiedete er sich mit dem nazideutschen Gruß. „Als Angehörige möchte man einen Helden haben“, sagt Margareta Flygt. Wie ihr Verwandter zu den Nationalsozialisten stand, weiß sie nicht. Aber das gehöre auch zu der Absurdität der damaligen Zeit: dass er vielleicht zum Opfer der eigenen Ideologie geworden ist.

In den Gemäuern des Schlosses, im Ankunftsschuppen, in den die Busse mit den Opfern einfuhren, im Aufnahmeraum, in dem die nackten Menschen flüchtig von Ärzten „überprüft“ und danach in die Gaskammer geführt wurden, wo durch ein perforiertes Rohr am Boden Kohlenmonoxid eingeleitet wurde, kann Flygt die Vergangenheit ihres Verwandten besser verstehen. Und so auch ein wenig sich selbst.
Stolperstein erinnert an Anton Braun
Zurückgeblieben ist von der Tötungsanstalt nicht viel. Der Ofen und viele Akten wurden Ende 1944 von den Nazis entfernt. Die sterblichen Überreste der Opfer wurden 2002 bestattet.
Anton Braun hat kein Grab. Die Hinterbliebenen bekamen zwar eine Urne von der Tötungsanstalt zugeschickt, ob die Asche darin vom Opfer stammte, ist fraglich. Sein Grab am Münchner Ostfriedhof wurde 1950 gekündigt. Nur noch ein Stolperstein erinnert die Schwedin und andere Passanten, die an der Franziskanerstraße in München entlanggehen, an den jungen Akademiker.