Fünf Jahre nach OEZ-Anschlag: Angehörige der Opfer lässt der Schmerz nicht los

Vor fast fünf Jahren riss der OEZ-Attentäter neun Menschen in den Tod. Der Anschlag versetzte München in einen Schockzustand. Das Leid ist heute noch groß.
München - Terror in München: Das war der erste Gedanke, als die Meldungen einer Schießerei an die Öffentlichkeit drangen. Tatsächlich war es ein Einzeltäter, der am 22. Juli 2016 ein rassistisches Attentat am Olympia-Einkaufszentrum begangen hat: Ein damals 18-jähriger Schüler erschoss neun Menschen.
Die Stadt stand unter Schock – und die Wunden heilen langsam: Viele Betroffene und Angehörige leiden bis heute. Am Donnerstag (22. Juli 2021) jährt sich das Attentat zum fünften Mal. „Die Erinnerungen an die Erfahrungen sind an diesen Tagen besonders stark. Damit umzugehen, erfordert viel Kraft“, sagt Damian Groten von der Beratungsstelle Before. Wir haben mit Betroffenen gesprochen.
„Ich sehe die Bilder jede Nacht“
„Wenn man in den Lauf einer Waffe blickt, ändert sich das eigene Leben“, sagt Hüseyin B. (34). „Der Attentäter stand vor mir und drückte ab, doch in seiner Pistole war keine Munition mehr. Dann hat er sich umgedreht und ist ins OEZ gelaufen.“ Noch heute wohnt Hüseyin B. in der Nähe, das Attentat ist „immer noch ein großes Thema. Ich bin seit acht Monaten wieder krankgeschrieben, weil es mir psychisch gar nicht gut geht. Ich habe Depressionen und Panikattacken.“
Die Bilder vom Attentat sieht Hüseyin B. „jede Nacht“, wie er sagt. „Ich schlafe nie mehr als eine oder zwei Stunden am Stück. Nachts laufe ich dann oft rüber zur Gedenkstätte, wo ich mit Giuliano am Boden lag. Es tut mir gut, dort zu sein.“
Wir waren mit Hüseyin B. wieder am Tatort: Den damals 14-jährigen Buben hatte er versucht zu retten, nachdem der Attentäter auf ihn geschossen hatte. Trotzdem starb Giuliano. „Mit seiner Familie habe ich seither engen Kontakt, wir telefonieren jeden zweiten Tag. Wir reden über alles, aber nicht über das Attentat“, so Hüseyin B. „Ich vermisse es, mal an nichts zu denken – das kann ich seit fünf Jahren nicht mehr. Dass ich Giuliano nicht retten konnte, war eher anfangs ein Thema für mich. Manchmal habe ich mir gewünscht, dass ich eine Kugel hätte für ihn abfangen können, damit er am Leben geblieben wäre. Ich habe geflucht, dass ich nicht drei Hände habe, weil er ja drei Einschusslöcher hatte. Viele sehen mich als Held, ich habe viele Nachrichten bekommen. Ich sehe mich aber nicht so.“

Bei seiner Familie findet Hüseyin B. Kraft. „Ich habe mittlerweile drei Kinder“, sagt er. Damals beim Attentat war seine Frau schwanger. „Den Jungen habe ich dann kaum aufwachsen sehen. Ich war körperlich anwesend, aber seelisch nicht.“
Zu schwer war die Last des 22. Juli 2016. „Ich sehe immer dasselbe Bild aus der Vogelperspektive vor mir: Wie ich neben dem blutenden Giuliano liege, ein paar Meter weiter die erschossene Frau. Sie wurde in den Kopf getroffen. Dann kommt der Attentäter in meine Richtung.“
Anwalt Onur Özata vertritt die Familie des getöteten Giuliano. Er sagt: „Umso näher dieser Jahrestag rückt, desto schlechter geht es ihnen, berichtet er. Die Erinnerungen und negativen Gefühle kommen wieder hoch. „Auch wenn das Attentat fünf Jahre her ist: Der Schmerz lässt nicht nach. Der Verlust belastet die Angehörigen.“ Ein Wegzug war aber kein Thema. „Die Familie ist fest verwurzelt in München und will in seiner Nähe sein. Giuliano ist auf dem Nordfriedhof beerdigt.“ Zum Gedenktag kommt die Familie. Sie will, „dass die Erinnerung an Giuliano wachgehalten wird.“
Gedenken an Armela Segashi
Was sind fünf Jahre? Nicht viel, wenn man einen geliebten Angehörigen verliert. „Es gibt nichts Schlimmeres“, sagt Arbnor Segashi. Seine Schwester Armela war 14 Jahre alt, als sie erschossen wurde. „Ich frage mich immer wieder: Warum passiert so etwas? Nicht einmal seinem schlimmsten Feind wünscht man, dass er nur einen Tag die Gefühle ertragen muss, die wir als Familie immer noch haben.“ Worte, die Segashi schon vor zwei Jahren im Gespräch mit unserer Zeitung geäußert hatte – und sie gelten noch immer. Denn: „Es gibt keinen Tag, an dem ich vergesse, was passiert ist. Es vergeht kein Tag, an dem mir nicht bewusst wird, dass mir ein Mensch fehlt, der jeden Tag da war.“ Arbnors Vater Smajl war so tief getroffen von Trauer, dass er nicht mehr als Busfahrer arbeiten konnte. „Kinderstimmen zu hören – es war für mich unmöglich.“ Halt finden Vater und Sohn in der Familie.
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OEZ-Anschlag: So läuft der Gedenktag am 22. Juli 2021
Am 22. Juli um 13 Uhr plant die Stadt eine zentrale Gedenkveranstaltung am OEZ-Denkmal in der Hanauer Straße 77. Gemeinsam mit Oberbürgermeister Dieter Reiter und Ministerpräsident Markus Söder werden Opferfamilien an die schreckliche Tat erinnern. Der Bayerische
Rundfunk überträgt die Gedenkveranstaltung live im Fernsehen ab 12.45 Uhr und als Stream im Internet bei BR24. Darüber hinaus findet um 17 Uhr eine Gedenkveranstaltung des örtlichen
Bezirksausschusses 10 (Moosach) in Kooperation mit der Initiative „Wir alle sind Moosach“ statt, um damit dem Wunsch der Opferfamilien nach einer Veranstaltung zum Tatzeitpunkt nachzukommen. Neben dem Vorsitzenden des Bezirksausschusses wird Alt-Oberbürgermeister Christian Ude gemeinsam mit den Familien der Opfer gedenken. *tz.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA
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