„Vor allem bin ich stolz“: Redakteurin traut sich endlich – und spendet Haare für krebskranke Kinder
Unsere Autorin wagt den Schritt. Sie spendet ihre Haare für Perücken für krebskranke Kinder. Bei einer Friseurmeisterin, die sich schon lange dafür einsetzt.
München – Mindestens 25 Zentimeter müssen gehen. So lang wie ein Unterarm. Vier Hände kitzeln mich im Nacken, während ich pfeilgerade im Friseurstuhl sitze. Friseurmeisterin Simone Löbel und ihre Kollegin flechten vier Zöpfe, alle mit einer Länge des besagten Viertelmeters. Innerhalb von Sekunden sind sie fertig. Löbel schaut mir durch den Spiegel in die Augen, in ihrer Hand eine Schere. „Jetzt brauch ich noch ein ganz klares, ‚ja, ich will‘.“ Ja, ich wollte. Und schwups, alle vier Zöpfe fallen nacheinander zu Boden.
Haare spenden für krebskranke Kinder: So funktioniert‘s im Salon Wellbeing
Es ist wohlig warm im Friseursalon Wellbeing in der Maxvorstadt. An Heizkosten wird hier nicht gespart. „Ich kann die Leute ja nicht mit nassen Haaren hier sitzen lassen“, erklärt Löbel, die Inhaberin des Salons. Obwohl sie etwas mehr Geld gut gebrauchen könnte, die Corona-Jahre machen ihr noch immer zu schaffen. Im Sommer erfährt sie, ob ihr Laden die Krise übersteht oder nicht. Inflation und Energiekrise machen das Ganze nicht besser.
„Weil das Wort Spende mit drin ist, denkt jeder, es ist alles umsonst. Wir machen eine Haarspende und keine Haarschnittspende“, stellt die gelernte Visagistin und Friseurmeisterin direkt am Anfang klar. Das bedeutet, die Haare werden natürlich gespendet, „Non-Benefit“ für den Salon. Den anschließenden Haarschnitt müssen die Kunden ganz normal selbst bezahlen.
Haare spenden im Friseursalon Wellbeing
Die Idee zur Haarspende hat eine traurige Vorgeschichte. Eine Kollegin von Löbel erkrankte damals plötzlich an Brustkrebs. „Das war natürlich sehr schwer“. Löbel begleitete ihre Freundin bis zum Schluss. Da sie auch schwarze lange Haare hatte, kam die Idee zur Haarspende auf. Bei ihrer Recherche, wohin mit den Haaren, stieß die Friseurmeisterin auf die Manufaktur Rieswick in NRW, die sich auf Perücken für krebskranke Kinder spezialisiert hat.
Alle zwei Monate gehen zehn Kilo Haare an die Manufaktur, in Hochphasen hatte der Salon Wellbeing zwei bis sechs Haarspenden am Tag. Eine Haarspende muss eine Länge von mindestens 25 Zentimetern haben, diese ergeben gerade mal Perücken mit Kinnlänge. „Ab 40 Zentimeter werden Haare mit Gold gewogen.“ Für eine Perücke benötigen die Knüpfer sieben bis acht Haarspenden. Der Preis einer Kinderperücke liegt bei 3500 Euro. Der Salon ist in allen Kliniken gelistet, viele Kinder kamen bereits vorbei, um sich Perücken abzuholen.
Haare um Haare: Friseursalon sammelt die gespendeten Zöpfe in einem Karton
Meine vier abgeschnitten Zöpfe liegen vor mir auf dem Tisch, sie wirken fremd und könnten auch jedem anderen gehört haben. Mindestens 25 Zentimeter müssen für eine Haarspende ab, bei mir waren es am Ende sogar 27. Ich merke, dass ich es vermeide, auf meine Zöpfe zu schauen. Simone holt währenddessen einen Umzugskarton aus der Ecke und stellt ihn auf ihren Schoß.

Er ist vollgepackt mit geflochtenen Zöpfen, sie sind braun, schwarz, blond, dick und dünn, weich oder borstig. „Manche sind locker 60 bis 70 Zentimeter lang“, erzählt sie mir, sichtlich stolz. Meine 27 Zentimeter scheinen plötzlich gar nicht mehr so viel. Ich bin etwas enttäuscht. Aber: „Für jeden ist eine andere Länge die Schmerzgrenze.“
Und die 27 Zentimeter waren wirklich eine Schmerzgrenze für mich. Seit Wochen schiebe ich den Termin vor mir her. Wenn man es genau nimmt, sogar seit Jahren. Und das, obwohl ich meine Haare schon immer spenden wollte. Die Angst, mit Mitte zwanzig wie eine 50-jährige Uschi aussehen, die in ihrer Midlife-Crisis Zumba für sich entdeckt hat, war zu groß.
Zweithaar-Manufaktur Rieswick: Das passiert mit den gespendeten Haaren
Viele Kinder spenden bei Wellbeing ihre Haare: „Das ist wahnsinnig beeindruckend“
Löbel fängt an, mir von den verschiedensten Beweggründen ihrer Haarspende-Kunden zu erzählen. Was sie besonders bewegt, sind die zahlreichen Kinderhaarspenden. „Die wissen ganz genau, was sie da tun. Viele kommen, da sie bei Angehörigen oder Bekannten gesehen haben, wie ihnen die Haare ausfallen.“
Ein Junge ließ sich in der ersten Klasse zwei bis drei Jahre seine Haare wachsen. „Er wurde wegen seiner langen blonden Haare in der Schule schon gehänselt.“ Als sie lang genug für eine Haarspende waren, ließ er alles abschneiden. Irgendwo hatte er von der Aktion gehört. „Wie kann ein Kind so einen Willen haben und über Hänseleien darüber hinweg stehen? Das ist wahnsinnig beeindruckend.“
Gespendet? Stimmen Sie mit ab.
„Was, ihr sammelt Zöpfe? Ich hab‘ noch welche aus meiner Jugend“
Es sei auch einmal eine Frau gekommen, die sich ihre 80 Zentimeter langen Haare komplett abrasiert und alles gespendet habe. Sie wollte erfahren, wie es erkrankten Menschen mit einer Glatze ergeht; verstehen, was eine Perücke bedeutet. „Die Leute wollen noch am Leben teilnehmen und nicht als todkrank abgestempelt werden“, sagt Löbel, die viele Geschichten mit begleitet hat.
Die wohl verrückteste Spende erreichte sie durch Zufall. Eine alte Dame sprach Löbel im Salon an: „Was, ihr sammelt Zöpfe? Ich hab‘ noch welche aus meiner Jugend“. Und tatsächlich konnte sie geflochtene Zöpfe abgeben, welche sie sich vor rund 50 Jahren abgeschnitten hatte.
Es ist nicht nur Haare schneiden. Man schneidet Lebensgeschichte ab, man schneidet unfassbar viele Emotionen ab.
Vorher-Nachher-Foto: Das Ergebnis des Selbstversuches
Die Geschichten berühren. Durch die Haarspende schenken Leute nicht nur einer anderen Person Freude, sondern auch sich selbst. „Es ist nicht nur Haare schneiden. Man schneidet Lebensgeschichte ab, man schneidet unfassbar viele Emotionen ab“, sagt Löbel. Es sei eine große Verantwortung, die Leute gingen als andere Menschen aus dem Salon. Und das stimmt. Nach meinem Haarschnitt blicke ich einer anderen Person im Spiegel entgegen.

Meine Haare waren seit ich fünf Jahre alt war nicht mehr so kurz. Und damals hielt mich jeder für einen Jungen. Es ist ungewohnt, aber mir gefällt mein neues Ich. Und vor allem bin ich stolz auf meine Haarspende. (tkip)
Friseursalons in München, in denen eine Haarspende möglich ist:
Wellbeing Friseur/Kosmetik: Dachauerstr. 99
Gandi‘s Haartist: Steinheilstr. 16
V‘olja Schönheitssalon: Dachauerstr. 433