Kommissar erklärt: So handelt die Polizei bei Vermisstenfällen
Mehr als 2000 Menschen werden jedes Jahr in München als vermisst gemeldet. Hier erklärt ein Kommissar, wie die Polizei derlei Fälle behandelt.





















München - Der Fall der vermissten Malina hat Deutschland bewegt. Vor allem die emotionalen Auftritte ihres Vaters zeigten die ganze Dramatik um die Suche nach der jungen Frau aus Fürstenfeldbruck. Ein Spaziergänger fand dann ihre Leiche am Donauufer bei Regensburg - Malina war in den Fluss gestürzt und ertrunken. Aus einer zwischenzeitlich vermuteten Entführung wurde am Ende ein tragischer Unfall. Knapp drei Wochen haben Polizisten nach der Studentin gesucht. Tausende Hinweise sind eingegangen. Nur wenige waren hilfreich. Nach Vermissten suchen - das ist die Aufgabe des Kommissariats 14 in der Hansastraße. Über 2000 Menschen werden jedes Jahr in und um München gesucht. Kriminalhauptkommissar Andreas Pilz erklärt in der tz, wie in der Vermisstenstelle gearbeitet wird.
Wann gilt jemand als vermisst?
„Vermissen kann man jeden“, sagt Kriminalhauptkommissar Andreas Pilz. „Damit wir handeln können, müssen aber mehrere Kriterien erfüllt sein.“ Diese sind in einer Polizeidienstvorschrift geregelt. Bevor die Polizei mit der Suche beginnt, prüfen die Beamten drei Punkte:
- Hat der Gesuchte seinen gewöhnlichen Lebensbereich verlassen?
- Ist der Aufenthaltsort unbekannt?
- Besteht Gefahr für Leib und Leben?
„Letzteres ist wichtig, um nach einem Erwachsenen überhaupt suchen zu dürfen“, sagt Pilz. Denn: Wer volljährig ist, habe grundsätzlich das Recht, sich aufzuhalten wo er will. Erst wenn Gefahr besteht, hat die Polizei eine Handhabe. „Der Gesuchte kann krank und eventuell auf Medikamente angewiesen sein. Vermisste ältere Menschen sind oftmals orientierungslos – Demenz spielt hier eine Rolle.“ Auch wenn jemand vor seinem Verschwinden Selbstmordabsichten geäußert hat, wird gesucht. Weiterer möglicher Hintergrund des Verschwindens: Dass jemand Opfer einer Straftat wurde. In den vergangenen 15 Jahren gab es laut Polizei aber nur wenige Fälle, bei denen ein Verbrechen der Grund war, warum Menschen verschwanden.
Wie oft kommt es vor, dass in München jemand vermisst wird?
Es ist eine Zahl, die verwundert. Zwar werden gelegentlich Vermisstenfälle bekannt, die meisten davon scheinen aber nicht an die Öffentlichkeit zu dringen. „Wir bearbeiten etwa 2000 Fälle pro Jahr“, sagt Hauptkommissar Günter Winklhofer (57), der an der Seite von Andreas Pilz im Team der Vermisstenstelle arbeitet. Das bedeutet: Jeden Tag laufen bis zu 20 aktuelle Suchen! Bereits bis Mitte Mai wurden in Stadt und Landkreis 744 Menschen als vermisst gemeldet – 460 davon sind Männer, 284 Frauen. Die größte Gruppe stellen Kinder und Jugendliche bis 16 Jahren. Hier reicht es bereits aus, wenn niemand weiß, wo sich das Kind aufhält – dann wird polizeilich gesucht. „Bei Minderjährigen gehen wir immer davon aus, dass sie in Gefahr sind“, sagt Kriminalhauptkommissar Pilz. Bei Jugendlichen müsse man generell zwischen zwei Gruppen unterscheiden: „Da gibt es diejenigen, die noch bei den Eltern leben, und solche, die beispielsweise in Jugendeinrichtungen untergebracht sind“, erläutert Pilz.
Gesucht und gefunden – von der Anzeige bis zum Fahndungserfolg
Menschen, die einen Angehörigen vermissen, kontaktieren in der Regel die nächste Polizeidienststelle. Dort wird die Anzeige gemacht, erste Informationen aufgenommen. Personalien der Gesuchten werden erfasst. Ein Foto ist bei der Suche am hilfreichsten. Auch die Beschreibung der zum Zeitpunkt des Verschwindens getragenen Kleidung ist wichtig. Gibt es Freunde, zu denen der Vermisste Kontakt halten könnte? Ist der Gesuchte mit einem Handy unterwegs? „Uns interessiert alles, was uns weiterbringt“, sagt Pilz. Auch Erkenntnisse darüber, ob der Vermisste in der Vergangenheit schon mehrmals gesucht wurde, sind entscheidend. Eine Polizeistreife fährt in der Regel den Ort an, an dem der Gesuchte zum letzten Mal gesehen wurde. „30 bis 40 Prozent der Fälle werden bereits in diesem Stadium geklärt“, sagt Pilz. Da kam es schon vor, dass sich Kinder im Keller versteckt hatten. Schwieriger wird’s, wenn schärfere Fahndungsmethoden erforderlich sind.
Wie man mit betroffenen Angehörigen umgeht?
„Jeder Mensch reagiert anders auf einen Verlust. Es gibt kein Handbuch, aber wir machen das mit unserer Berufserfahrung und viel Fingerspitzengefühl wett“, sagt Winklhofer. „Die Gemütslagen reichen von panisch bis gelassen.“ Aber grundsätzlich sei jeder besorgt. „Unsere Aufgabe ist es, so viele Informationen wie möglich über Vermisste zu besorgen.“
Wie hilfreich sind soziale Medien bei der Vermisstensuche?
„Fluch und Segen“, sagt Pilz. „Das kann zum Bumerang werden.“ In sozialen Netzwerken wie Facebook hat jeder Nutzer die Möglichkeit, große Suchaktionen auszulösen. Eine rechtliche Kontrolle, wie bei der Polizei die Regel, sei hier nicht notwendig. Auch wenn man schnell tausende Menschen auf seine Hilflosigkeit aufmerksam machen könne, seien Suchen via Internet oft kontraproduktiv. Winklhofer: „Menschen mit Depressionen und Selbstmordgedanken könnten durch die öffentliche Suche regelrecht in den Tod getrieben werden.“ Die Beamten würden sich wünschen, dass Vermisstensuchen nicht auf eigene Faust gemacht werden. Aber: Auch die Polizei nutzt Facebook und Co. als Werkzeug, um Vermissten auf die Schliche zu kommen. „Viele hinterlassen eine Spur“, sagt Pilz. Möglicherweise finden sich hier Menschen, denen sich der Gesuchte anvertraut hat.
Das Drama um Malina in Regensburg
Die Suche nach der vermissten Studentin Malina Klaar (†20) aus Fürstenfeldbruck hat betroffen gemacht. Die junge Frau war am 19. März 2017 verschwunden. Damals war sie mit Freundinnen auf einer Party in Regensburg. Malina hatte noch Kontakt zu ihren Freundinnen, als sie in der Regensburger Innenstadt umherirrte. Offenbar hatte sie sich auf dem Heimweg zu ihrer WG verlaufen. Ein Spaziergänger fand am nächsten Tag das Handy der 20-Jährigen in der Nähe der Donau.
Eine riesige Suchaktion wurde gestartet. Taucher fahndeten im Fluss, Polizisten durchkämmten Wälder, befragten Zeugen und Anwohner. Zwischenzeitlich kam der Verdacht auf, Malina sei verschleppt worden. Jemand gab bei der Polizei an, er habe sie auf einem Parkplatz in Tschechien gesehen.
Ein Grund, warum der Fall in der Öffentlichkeit hohe Wellen schlug, war das beherzte Auftreten von Malinas Vater. Der 46-Jährige ließ keine Gelegenheit aus, auf die Suche nach seiner Tochter aufmerksam zu machen. Emotionaler Höhepunkt war sein Auftritt in dem Boulevard-Magazin Stern TV, wo er unter Tränen seine verzweifelte Lage schilderte. Er und Malinas Freunde waren es, die die Suche nach der Studentin populär machten. Die Kommissare der Münchner Vermisstenstelle waren mit dem Fall zwar nicht betraut, können aber einschätzen, wie schwierig die Arbeit der involvierten Fahnder war.

„Ob dieser Rummel für die polizeiliche Arbeit hilfreich war, ist zumindest fraglich“, sagt Andreas Pilz. Die Flut an Hinweisen sei mit Sicherheit enorm gewesen. Aber: „Hinweise können einen auch erschlagen“, meint der 50-Jährige. Denn jeder Tipp muss ernstgenommen und geprüft werden. Das erfordere einen hohen Personalaufwand. Hinweisen nicht nachzugehen, sei grob fahrlässig. Die Öffentlichkeitsfahndung sei im Fall von Malina Klaar nicht von der Polizei geführt worden. Die Beamten hätten Anfragen zum Stand der Ermittlungen lediglich bestätigt oder dementiert.
Alle Bemühungen waren letztlich vergebens. Am 7. April, drei Wochen nach dem Verschwinden, wurde Malina tot am Donauufer unweit von Regensburg gefunden. Die Studentin war vermutlich in den Fluss gestürzt und ertrunken.
Von Sonja Engelbrecht fehlt ein Lebenszeichen
Vor mittlerweile 22 Jahren verschwand Sonja Engelbrecht. Die damals 19-Jährige ging in jener Nacht im April 1995 ohne ein Wort. Bis heute gibt es kein Lebenszeichen. Auch die Polizei tappt im Dunkeln. Auch Recherchen von Familienangehörigen führten zu keinem Ergebnis. Seitdem ranken sich krude Theorien um ihr Verschwinden.
„Wurde Sonja gekidnappt und ins Ausland an Mädchenhändler verkauft?“, liest man auf der eigens für die Suche nach der Münchnerin eingerichteten Internetseite www.sonja-engelbrecht.de. Und weiter: „Ist sie das Opfer eines Unbekannten geworden, zu dem sie leichtgläubig ins Auto stieg?“ Auch ein mögliches Szenario, für das es sogar einen Zeugen gibt: Sonja war am Tag ihres Verschwindens offenbar noch in Begleitung eines Mannes. Die beiden waren angeblich auf dem Weg zum Stiglmaierplatz. Bei seinen Vernehmungen verstrickte sich der Mann offenbar in Widersprüche. Hat er etwas mit Sonjas Verschwinden zu tun?

Es geht um Fragen, die einerseits die Ermittler beschäftigen, aber vielmehr Sonjas Angehörigen keine Ruhe lassen – auch nicht nach 22 Jahren. Kriminalhauptkommissar Andreas Pilz kennt die Sorgen von hilflosen Eltern: „Sie werden nie ganz abschließen können, sofern es noch den geringsten Hoffnungsschimmer gibt.“ Manchmal sei es – so bitter es auch klingen mag – für Angehörige besser, ein vermisster Mensch werde tot aufgefunden. Denn: „Die Trauerphase ist der Start zum Verarbeiten eines Verlustes“, sagt Pilz. Im Fall von Sonja Engelbrecht hat dieser Prozess nach quälend langen Jahren noch nicht beginnen können. „Das sind offene Wunden, die nie verheilen.“ Die Münchner Ermittler haben den Fall der damals 19-Jährigen keineswegs vergessen. Immer wieder beschäftige man sich mit ihrem Verschwinden. Sind jedoch alle erdenklichen Maßnahmen ergriffen, sämtliche Hinweise abgearbeitet, seien auch den Beamten die Hände gebunden.
Und trotzdem: „Zahnschema und DNA-Muster sind gespeichert“, sagt Pilz. Sobald ein Mensch – tot oder lebendig – aufgefunden wird, werden seine Daten durchs System gejagt. Und wer weiß: Vielleicht kann das Schicksal der jungen Frau doch noch geklärt werden…
Mann in letzter Sekunde gerettet
Viele Vermisstenfälle schlummern jahrelang in den Akten der Fahnder. Nicht nur Angehörige sind erleichtert, wenn Gesuchte wieder den Weg zu ihren Liebsten finden – auch die Ermittler freuen sich über jeden Erfolg. Lesen Sie hier zwei Beispiele!
Erst im Februar diesen Jahres meldet ein Ehepaar aus dem südlichen Münchner Landkreis seinen Sohn als vermisst. Zwar ist der Mann 35 Jahre alt und hat damit das Recht zu verreisen, ohne dass er seinen Eltern Bescheid sagen muss – ein Aspekt macht den Fall aber brisant: Der Gesuchte ist schwerkrank, wartet auf ein Spenderorgan. Ohne seine Medikamente ist er schnell in Lebensgefahr. Doch der 35-Jährige hat offenbar das Warten satt. Mit der S-Bahn fährt er nach München, quartiert sich dort in zwei verschiedenen Hotels ein – und wird nach zwei Tagen gerade noch rechtzeitig gefunden. Er war im Badezimmer kollabiert – Minuten haben über Leben und Tod entschieden. „Wir konnten seine Aufenthaltsorte durch eine Kette von Befragungen und Datenauswertungen zum Glück relativ schnell ermitteln“, sagt Günter Winklhofer.
Eine weitere Geschichte zeigt, wie sinnvoll soziale Medien bei der Suche nach Vermissten sein können. Im Internet spricht ein junges Mädchen offen über ihre Selbstmordgedanken. Der Fall dringt zur Polizei durch. Ermittler kommen an den Namen der offensichtlich verzweifelten Schülerin, auch die Wohnadresse finden sie heraus. Streifenwagen eilen zu ihrem Haus. Die Eltern wissen von nichts. Im Gespräch mit den Beamten gibt das Mädchen ihre Absichten zu. Andreas Pilz: „Jetzt kann ihr geholfen werden.“