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Lehrerin: Was ich am Elternsprechtag über das Leben gelernt habe

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Birgit Dittmer-Glaubig, BLLV
Birgit Dittmer-Glaubig, Konrektorin an der Simmernschule in München-Schwabing. © privat/Grafik: Simon Nagl

Ein bestimmter Elternsprechtag geht der Lehrerin Birgit Dittmer-Glaubig nicht mehr aus dem Kopf. In ihrem Gastbeitrag schreibt sie, was sie an diesem Termin über das Leben gelernt hat.

Wie schnell das Schuljahr vergeht… Gerade erst habe ich die fünfte Klasse übernommen und nun steht schon der erste Elternsprechtag vor der Tür. Der wievielte ist es wohl in meinem Lehrerdasein? Wie erwartet haben sich gerade mal zehn der 21 möglichen Eltern für ein Gespräch angemeldet. 

Ob die Mutter von Julia wohl kommen wird? Sie hat zwar die unterschriebene Einladung ihrer Tochter mit gegeben, doch meine Versuche der letzten Wochen, Julias Mama ans Telefon zu bekommen, waren bislang immer gescheitert. Ich wollte sie darauf aufmerksam machen, dass Julia leider sehr häufig zu spät zum Unterricht erscheint, oft unausgeschlafen und mit wenig Motivation in der Klasse sitzt und dass sie dies bitte mit ihrer Tochter besprechen solle. 19.30 Uhr stand auf ihrem Anmeldezettel. Um 20 Uhr begann ich meine Schülerunterlagen zu verstauen, enttäuscht darüber, dass Julias Mutter es wieder nicht geschafft hatte, als sie plötzlich in der Tür stand. 

„Bitte entschuldigen Sie, aber ich habe meine Jüngste nicht bei den Nachbarn abgeben können und musste warten, bis Julia heim kam. Sie ist sonst immer für mich und die Geschwister da, aber heute musste sie für die Oma etwas erledigen. Es ist nicht einfach, alleinerziehend mit zwei Jobs und drei Kindern. Wenn ich Julia nicht hätte, wüsste ich nicht wie das gehen soll. Morgens bringt sie die zwei Kleinen in den Kindergarten, weil ich schon um 6 Uhr los muss. Am Abend muss sie sie häufig ins Bett bringen, da ich dann zur Abendschicht eingeteilt bin.“ 

Ich glaube sie redete noch einige Zeit weiter und erklärte mir noch so manche Details ihrer familiären Situationen. Ich dachte mir: „Was wollte ich dieser Mutter sagen? Ihr Kind muss pünktlich sein, sie muss ausgeschlafen in den Unterricht kommen, ansonsten schafft sie das Klassenziel nicht. Aber, von welchem familiären Idealbild gehe ich da eigentlich aus?“ Natürlich war mir klar, dass ich einige Schüler alleinerziehender Eltern in meiner Klasse hatte und dass es mit dem Geld bei einigen knapp war. 

Aber diese Mutter zeichnete mir ein noch ganz anderes, mir fast unvorstellbares Familienbild. Eine verzweifelte, vom Lebenspartner verlassene Frau mit großen Existenzängsten, die auf die Hilfe ihrer zehnjährigen Tochter angewiesen ist. Schlagartig wurde mir klar, was es für diese Mutter bedeutete, sich mir anvertraut zu haben. Sie hatte mir die Augen geöffnet für Situationen, die ich mir so nicht hätte vorstellen können und die mich sprach- aber nicht hilflos machten. Ich bedankte mich bei ihr für ihre Offenheit, versicherte ihr meine Wertschätzung und versuchte ihr mögliche Unterstützungsmaßnahmen aufzuzeigen. 

An diesem Abend habe ich erkannt, wie wichtig es ist, das große Ganze nicht aus dem Auge zu verlieren und gelernt, bei dem durchaus berechtigten „gleichem Recht für Alle“ zu unterscheiden, zu differenzieren und Umwege zu denken. Mir ist klar geworden, dass ich nicht nur alle Schüler, sondern auch die Eltern dort abholen muss, wo sie gerade stehen. 

Nur der offene, ehrliche und vertrauensvolle Austausch eröffnet Möglichkeiten, ein Stück des (schulischen) Weges gemeinsam zu gehen.

Diesen Gastbeitrag schrieb Birgit Dittmer-Glaubig, Konrektorin an der Simmernschule in München-Schwabing.

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