Angehörige der verschleppten Geiseln von Gaza suchen in München nach Unterstützung

Unter den rund 240 Geiseln, die die Hamas in den Gazastreifen verschleppt hat, sind auch 19 Israelis mit deutschem Pass. Angehörige suchen in Bayern nach Unterstützung, um sie freizubekommen. Darunter zwei junge Frauen aus Tel Aviv.
München – Die Schwestern Naama und Ofir Weinberg sitzen in der Lobby eines Hotels in der Münchner Innenstadt. Naama (27), die ältere, hat einen „Bring them home now“- Sticker an ihrem Oberteil. Bringt sie nach Hause – gemeint sind die 240 israelischen Geiseln, die seit dem Überfall vom 7. Oktober in den Händen der Hamas sind. Einer von ihnen ist Itai, der Cousin der Schwestern, der am Tag des Terrors im Kibbuz Beeri nahe Gaza weilte. 86 Bewohner des Kibbuz wurden ermordet, die Zahl kann sich noch erhöhen, weil noch nicht alle geschätzt 1200 israelischen Opfer des Hamas-Überfalls identifiziert sind. 35 Israelis wurden aus Beeri entführt. Darunter ist Itai.
Ofir (24) holt aus einer Plastiktüte ein großes Foto und legt es auf den Tisch. Itai Svirsky, ein schlanker, 38-jähriger Mental-Trainer aus Tel Aviv, lächelt auf dem Foto. Ein bisschen Hoffnung strahlt das aus. Doch dann zieht Ofir noch weitere Fotos aus der Tüte. Grauenhafte Bilder. Ein zerstörtes Haus. Ein ausgebrannter Dachstuhl. Und das Innere einer Wohnung, verwüstet. Links ein Piano, ein Sofa, und eine breite Blutspur, die sich meterlang durch das Zimmer zieht. Das war die Wohnung von Itais Vater Ravi, der gleich nebenan wohnte.
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19 Geiseln haben auch den deutschen Pass
Dann erzählen die Schwestern die Geschichte, die sie nach Deutschland gebracht hat. Seit vergangenen Mittwoch sind sie hier, zusammen mit sechs weiteren Familien. Alle sind Angehörige von Geiseln, insgesamt 19 Personen, die neben der israelischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Auch Itai hat zwei Pässe, seine Großmutter ist 1935 aus Chemnitz ins damalige Palästina ausgewandert.
Die Angehörigen haben mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck geredet, mit der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, mit dem Krisenstab des Auswärtigen Amtes und vielen weiteren Offiziellen. Nächste Station nach Berlin ist München, wo sie gestern mit Landtagspräsidentin Ilse Aigner und anderen Abgeordneten sprechen konnten. Vor diesem Termin an diesem grauen, regnerischen Vormittag in München erzählen sie über den Tag, als der Terror kam. Und über Itai.
Es war am 7. Oktober gegen 6.30 Uhr morgens, als Naama Weinberg, Architekturstudentin in Tel Aviv, durch Sirenen aus dem Schlaf gerissen wurde. „Ich schaltete den Fernseher an, checkte mein Smartphone“ – und realisierte nach und nach, dass etwas Grauenhaftes, nie Dagewesenes passiert sein musste.
Greueltaten wie vom IS
Heute wissen wir: Terroristen der Hamas drangen zu Hunderten aus Gaza ins israelische Grenzland ein, ermordeten die Besucher des Supernova-Musikfestivals und überfielen die grenznahen Kibbuz-Siedlungen. Die Gräueltaten der Hamas dort sind unbeschreiblich: abgehackte Köpfe, erschossene Babys. Ein Morden nach IS-Manier. Auch im Kibbuz Beeri, in dem die getrennt lebenden Eltern von Itai wohnten, die er an diesem Samstag besucht hatte. Gegen 7.25 Uhr kam die erste Nachricht von Orit, der Mutter Itais. Betet für uns, schrieb sie. Und dass Schüsse und Bombenexplosionen zu hören seien. Wie wohl die meisten der 1200 Kibbuz-Bewohner verbarg sich Orit mit ihrem Sohn in einem Bunkerraum ihres Hauses. Jedes Haus in dem Kibbuz hat so einen Raum, der vor Bomben schützt. Das Problem: Sie lassen sich nicht von innen verschließen.
Ein erstes Lebenszeichen von Itai gab es um 10.40 Uhr. Da schrieb er seinem Bruder aus dem Bunkerraum, die Fenster im Haus seien zersplittert. Fast zeitgleich die letzte Nachricht von Vater Ravi: Terroristen seien ins Haus eingedrungen. Drei Minuten später die letzte Nachricht von Itai: ein rotes Herz-Emoji.
Auch Haushaltshilfe aus den Philippinen ermordet
Heute wissen die Schwestern: Ravi und seine Ex-Frau Orit sind tot, erschossen von der Hamas. Das haben sie zehn Tage nach der Hamas-Überfall erfahren. Selbst die drei Hunde von Ravi lagen erschossen in der Wohnung. Ebenfalls ermordet: Grace, eine philippinische Haushaltshilfe, die sich um Itais zweite Großmutter Aviva kümmerte. Auch sie lebten im Kibbuz Beeri. „Grace war weder jüdisch noch eine Israelin“, sagt Ofir Weinberg. Großmutter Aviva blieb am Leben, warum, weiß niemand. Sie selbst leidet an Demenz, hat nur bruchstückhafte Erinnerungen an diesen Terror-Tag. Itai indes wurde verschleppt. Das hat ihnen die Armee mitgeteilt. Man konnte sein Handy in Gaza orten.
Viele Kibbuze in Israel, früher so etwas wie sozialistisch angehauchte Kollektiv-Gemeinden mit gemeinsamem Eigentum und Basisdemokratie, sind mittlerweile normale Dörfer. In Beeri gab es ein starkes Gemeinschaftsgefühl der Bewohner, erzählt Naama Weinberg. Viele gemeinsame Aktionen, Essen in der Großkantine, jeder kannte jeden. Ob es je wieder ein Leben in Beeri geben wird? Da sind sich die Schwestern nicht sicher. Orits Haus ist total zerstört.
Katar als Schlüssel-Staat
Naama und Ofir sitzen nebeneinander auf einer Couch im Hotel und reden noch ein bisschen über die politische Lage, über die vage Hoffnung, durch Gespräche und Öffentlichkeit Druck ausüben zu können. Ofir Weinberg zählt vier Länder auf, die ihrer Meinung nach die Hamas zur Freilassung der Geiseln bewegen könnten: Ägypten, Iran, Türkei – und Katar. Dort residiert die politische Führung der Hamas. Israel hat keine offiziellen Beziehungen zu Katar, Deutschland schon, betonen die Schwestern. Und vielleicht hilft es ja auch irgendwie, dass sie am Samstag ein Spiel des FC Bayern besucht haben – jenes Vereins, der bis zum Sommer Qatar Airways als Sponsor hatte. Am Schluss des Gesprächs will Naama Weinberg noch etwas ergänzen. Sie sehe auch das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza, sagt sie. Das zu sagen, ist ihr wichtig.
Heute fliegen Naama und Ofir Weinberg wieder heim – in der Hoffnung, etwas für die Geiseln getan zu haben. „We hope“, sagen sie leise. Es ist Tag 38 nach dem Hamas-Überfall.
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