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München: Bussi, Bussi – aus und vorbei! So ändert sich das Gesellschaftsleben durch Corona

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Von: Ulrike Schmidt

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München Jan Bülow (r), Schauspieler und Udo Lindenberg, Musiker, küssen sich bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises im Prinzregententheater
Ein dickes Bussi auf dem Bayerischen Filmpreis: Udo Lindenberg drückt Schauspieler Jan Bülow (r) einen dicken Schmatz auf den Mund (Archivfoto 2020). © Tobias Hase/dpa

Bussi rechts, Bussi links - die Münchner sind für ihre Begrüßungsform bekannt. Wegen Corona hat es sich jetzt ausgebusselt. Wie sich das Gesellschaftsleben verändert, erklärt ein bekannter Psychiater.

München - München – das ist die Hauptstadt der Bussi, Bussi-Gesellschaft. Nirgendwo sonst werden Nähe und das Adabei einer High-Society mit angedeuteten Wangenküssen links und rechts so gern und offen demonstriert. Die jeweilige Dosierung an Innigkeit verrät, was und wie viel zwischen den Beteiligten liegt – bisweilen ist das Bussi sogar Tarnung für puren Hass. Guten Freunden gibt man gern ein Küsschen, heißt’s. Selbst, wenn man grad vergessen hat, wer der andere ist...

Woher Bussi, Bussi kommt – vermutlich aus dem Süden, wo kein Anlass für ein Bacio ausgelassen wird. Angeblich geht der Wangenkuss auch auf katholische Aristokratinnen in den Residenzstädten München und Wien zurück – vielleicht deshalb ist München auch heute noch das Zentrum der Bussi-Kultur. Doch wie dem auch sei: Es ist vorbei! Für lange, lange Zeit. Nicht einmal der weniger verbindliche Handschlag darf noch eingefordert werden – allein der kühle Abstand zählt. Selbst die Kleinsten haben inzwischen gelernt, dass vom Gegenüber eine potenzielle Gefahr ausgeht.

„Nach etwa sechs Wochen verfestigt sich ein Verhalten zur Gewohnheit“, weiß der Psychotherapeut und Psychiater Dr. Pablo Hagemeyer (50), der u. a. die TV-Serie Bergdoktor fachlich berät und erst im vergangenen Jahr den Spiegel-Bestseller über den Umgang mit Narzissten veröffentlicht hat: Gestatten, ich bin ein Arschloch... Die tz hat den Autor zum Interview mit Augenzwinkern gebeten:

Corona in München: Psychiater Dr. Pablo Hagemeyer
Corona in München: Jetzt ist Abstand gefragt! Wie das Bussi zu ersetzen ist – Psychiater Dr. Pablo Hagemeyer hat viele Tipps . © Schmidt Achim Frank

Wird uns die ausdrücklich zelebrierte Nähe fehlen?

Dr. Pablo Hagemeyer: Bindung ist für Menschen sehr wichtig, auch Berührung und Nähe. Es gibt Studien, was Küsse alles so bewirken, also echte. Aber B­ussi, Bussi vermutlich nur so leicht. Doch eins ist irre: Das Demonstrieren von Liebe oder Zuwendung aktiviert im Gegenüber über sogenannte Spiegelneurone eben diese Bereiche der Liebe und Zuwendung.

Das heißt, der Liebes-Kitt, der die feine Gesellschaft zusammenhält, ist weg?

Hagemeyer: Unser gesellschaftlicher Kitt per se ist ja Empathie, auf ein Bussi reduziert, scheint mir das zu wenig. Zumal ja Küsse auch Ausdruck von einer mehr oder weniger ausgeprägten Lust, Zuneigung, Gier und ja, sogar Aggression sein können. Wenn wir aber liebevolle Empathie über ein Bussi verdeutlichen wollen, dann kann das jetzt schmerzlich fehlen. Die uns allernächsten Menschen müssten wir, um den Effekt zu erhalten, mehrfach und immer wieder mit Bussi, Bussi begrüßen. Wenn man von der Küche zurück ins Wohnzimmer kommt…, wenn man vom innerhäuslichen Gassigehen zurückkommt… – also das heißt, wir müssen liebevoller mehr denn je miteinander umgehen.

Das hilft?

Hagemeyer: Ja, damit halten wir auch das Anti-Stress Hormon und Bindungshormon Oxytocin hoch. Wenn man es so nicht bekommt: Das gibt es auch als Nasenspray. Doch bevor sie jetzt losgehen und sich ein Spray besorgen, machen sie lieber eine Kuscheltherapie mit sich selber! Auch das ist wirksam.

Ohne Bussi-Bussi - Fehlende Nähe oder auch Befreiung?

Wie steht es um die Menschen in der Pandemie?

Hagemeyer: Ängste und Depressionen kommen gerade jetzt, in der zweiten Welle, häufiger als in der ersten Welle vor. Die Erschöpfungsdepression vieler Menschen, die sich durchkämpfen und die Situation aushalten, werden deutlicher. Laut einer Studie der KKH hat die Anzahl derer, die sich wegen einer psychischen Störung krankmelden, im ersten Halbjahr der Pandemie um 80 Prozent zugenommen. Andererseits rücken die Menschen zusammen. Das schützt.

Also doch auch ein positiver Aspekt bei all den negativen...

Hagemeyer: Es gibt noch einen: Bussi, Bussi und betatscht zu werden, ist ja auch für viele eine unangenehme Angelegenheit. Corona bietet die Befreiung von lästigen Berührungen. Einige Menschen haben ja auch begründet ein Problem mit Nähe. Überhaupt ist die Bussi-Bussi-Gesellschaft ja auch Geschmacksache: Für viele wirkt sie wie Heuchelei. Denn nicht jeder will immer spontan und unerwartet abgebusselt werden. Endlich bietet sich die Gelegenheit, frei zu sein, zu sagen: Bleib mir vom Pelz. Fremde kann man sogar unmittelbar wieder auf Distanz schicken: vor die Tür etwa, wenn das Büro klein ist. Oder wenn wichtige Leute, die sich wichtig nehmen, einem den Raum und die Luft nehmen: Bitte draußen warten!

So wird’s auf Dauer aber auch ganz schön kühl und zugig in einer Gesellschaft. Und was tu’ ich jetzt als Opfer des Bussi-Entzugs?

Hagemeyer: Ich schlage jede Form von Selbsttherapie vor, die mit Berührung einhergeht. Da ist ganz oben das Havening: Arme verschränken, sich streicheln, von den Schultern abwärts bis über die Oberschenkel. Diese gekreuzte Haltung der Hände, linkes Hirn und rechtes Hirn verbinden sich spürend, löst und leitet innere tief sitzende Anspannungen aus. Viele spüren dabei ein wohliges Kribbeln, das von oben nach unten abfließt. Kann man auch mit ein paar tiefen Atemzügen ergänzen. Das macht man am besten im Sitzen und bei geschlossen Augen.

Also Havening-Selbsttherapie statt Bussi, Bussi – ist das die Zukunft?

Hagemeyer: Haut ist ein sehr wichtiges Organ zur Emotionsregulation. Heute wissen wir aus der Bindungsforschung, dass skin-to-skin beruhigt, die menschliche Bindung untereinander festigt, antidepressiv wirkt und auch noch glücklich macht. Eine ehrliche Berührung, berührt auch unsere Seele. Wenn allerdings Grenzen überschritten werden, löst das Ärger aus. Überhaupt müssen wir aufgrund der geforderten Distanz lernen, mit vielen neuen Ärgernissen umzugehen: Wenn das WLAN im Haushalt zusammenbricht. Wenn der Lieferdienst dein Paket verloren hat. Wenn, im Homeoffice die Motivation auf einen Nullpunkt sinkt. Wenn die Frisur ein Desaster ist und die Nachbarn einen denunzieren, weil die „beste Freundin“ zum Tee – und Haarefärben – kommt. Auch mit Ängsten, die uns treiben, vor neuen Mutationen und einer ungewissen Zukunft. Da hilft: Schnell zur Liebsten oder zum Liebsten in die Küche gehen und Bussi, Bussi machen!

Das Interview führte: Ulrike Schmidt

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