Münchens Oberbürgermeister Reiter zieht kritische Jahres-Bilanz: „Ein paar Dinge sind schlecht gelaufen“

Für Münchens OB Dieter Reiter (SPD) ist Regieren im Krisenmodus nichts Neues. Zu Beginn seiner Amtszeit in den Jahren 2014/15 mussten tausende Flüchtlinge untergebracht werden. Seit einiger Zeit dominiert Corona den politischen Alltag.
Wir sprachen mit dem 63-Jährigen über Krisenmanagement, seine Haltung zu Impfverweigerern und über seine Erwartungen an die neue Bundesregierung.
Herr Reiter, wenn wir auf den Marienplatz herunterblicken, auch heuer gibt es wieder keinen Christkindlmarkt. Wie frustrierend ist es derzeit, als Stadtoberhaupt Verantwortung zu tragen?
Seit Anfang meiner zweiten Amtszeit im Frühling 2020 geht es jeden Tag nur um Corona. Das hat ehrlich gesagt überhaupt nichts mit Gestalten oder irgendwelchen Verbesserungen für die Bürger zu tun. Der permanente Krisenmodus ist nicht das, was man sich als Politiker wünscht. Aber es bleibt ja nichts anderes übrig, als sich dieser Aufgabe zu stellen. Wir müssen alles dafür tun, dass sich nächstes Jahr ein gewisses Maß an Normalität einstellt.
Deutschland ist im Management der Corona-Krise nicht gerade Weltmeister. Auch in München sind Fehler bei der Kontaktnachverfolgung von Infizierten passiert. Warum hinken wir hinterher?
Ich weiß nicht, ob Ihre Frage objektiv formuliert ist. Die Zahl der Toten würde nicht belegen, dass wir im internationalen Vergleich schlecht dastehen ...
... aber bei der Impfquote schon ...
... die Zahl der Toten ist nun mal die schlimmste Auswirkung einer Pandemie. Aber sicher sind ein paar Dinge schlecht gelaufen. Beginnend bei der übergeordneten Kommunikation. Ich erinnere daran, wie der Impfstoff Astra- Zeneca zerredet wurde. Oder Moderna. Es schafft auch wenig Vertrauen, wenn die Bürger im Drei-Monats-Rhythmus ständig neue Botschaften über die Wirksamkeit von Impfstoffen hören. Dasselbe gilt beim Herumlavieren über die Impfpflicht. Es wäre besser gewesen, keine endgültigen Aussagen zu formulieren, sondern einfach mal ehrlich zu sagen: Wir wissen nicht genau, ob die Impfpflicht notwendig sein wird – weil wir bisher keine auch nur ansatzweise vergleichbare Situation hatten.
Münchens OB Reiter: „Karl Lauterbach ist vom Fach und in der aktuellen Situation die beste Wahl“
Haben Sie Hoffnung, dass sich das Krisenmanagement unter dem neuen Gesundheitsminister bessert?
Karl Lauterbach ist vom Fach und in der aktuellen Situation die beste Wahl. Er ist auf der vorsichtigeren Seite unterwegs. Das wird die Politik des Bundes verändern. Ich glaube, er würde nicht lange zögern, einen Bundes-Lockdown zu verhängen, wenn er es für notwendig hält. Aktuell sehe ich diese Notwendigkeit aber nicht.
Sie hatten vor einem Jahr gesagt, man könne die IAA nicht stattfinden lassen und die Wiesn absagen. Auch das kam anders.
Ja, es war eine Fehleinschätzung, aber damals meine feste Überzeugung. Beides sind internationale Großereignisse, und deshalb habe ich diese Verknüpfung hergestellt. Aber für die Internationale Automobilausstellung gab es ein tragbares Gesundheitskonzept, was bei der Wiesn in der Kürze der Zeit wesentlich schwieriger umzusetzen gewesen wäre.
Ich kann die Haltung der Querdenker nicht nachvollziehen. Manche würde ich am liebsten mal in eine Intensivstation mitnehmen.
Auch in München gibt es plötzlich wieder Demos von Kritikern der Corona-Maßnahmen. Ärgern Sie sich über Impfmuffel und Querdenker?
Ob ich mich ärgere, ist nicht entscheidend. Ich kann diese Haltung nicht nachvollziehen. Ich besuche regelmäßig Intensivstationen mit Corona-Patienten und sehe unfassbares Leid. Da würde ich manche Münchner am liebsten mal mitnehmen. Man muss kein Medizinstudium absolviert haben, um sagen zu können: Für Geimpfte ist das Risiko, auf einer Intensivstation zu landen, deutlich geringer. Wenn man es schon nicht für sich selbst macht, sehe ich auch eine gewisse gesellschaftliche Verpflichtung, andere zu schützen.
Münchens OB: Wo Dieter Reiter den Koalitionsvertrag etwas karg findet
Zur neuen Bundesregierung: Sie haben ja große Erwartungen an die Ampel und an Kanzler Scholz, den Sie persönlich kennen. Was kann die Ampel Gutes für eine Metropole wie München bewirken?
Ich habe den Koalitionsvertrag natürlich gelesen und stelle mit Freuden fest, dass viele Wohnungen gebaut werden sollen. Das ist für München aber nicht die allein selig machende Lösung, weil wir nicht genügend Platz haben und nicht alles zubauen werden. Ich hätte mir mehr Akzente für den Mieterschutz gewünscht. Da ist der Koalitionsvertrag, vorsichtig gesagt, etwas karg. Die Senkung der Kappungsgrenze von 15 auf elf Prozent wird denjenigen, die sich die Miete so gerade noch leisten können, definitiv nicht weiterhelfen. Da hat man dem kleinsten Bündnispartner FDP offenbar sehr viel Rechnung tragen müssen. Aber ich werde nicht nachlassen, meine Forderungen zum Mieterschutz offensiv an die Bundesregierung heranzutragen.
Wer ist da Ihr erster Ansprechpartner?
Ich habe einen guten Draht zu SPD-Parteichef Lars Klingbeil. Und ich werde natürlich mit der neuen Bauministerin Klara Geywitz (SPD) Kontakt aufnehmen. Eine sozialdemokratische Bauministerin sollte zum Beispiel dafür sorgen, dass die Wohnungen von Bahn- oder Postgenossenschaften ihre Sozialbindung behalten. Da haben wir in München noch mehrere tausend Wohnungen. Ansonsten muss sich beim Thema Bodenrecht grundsätzlich etwas ändern. Wenn sich Grund und Boden weiterhin so exorbitant verteuern, werden in München nicht massenhaft bezahlbare Wohnungen entstehen.
Münchens OB: Darum gings in Reiters ersten Brief an die neue Bauministerin
Auch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Thema Vorkaufsrecht in Erhaltungssatzungsgebieten konterkariert die Bemühungen der Stadt, für bezahlbaren Wohnraum zu sorgen.
Richtig. Es schränkt kommunale Rechte beim Kauf von Grundstücken drastisch ein. In dieser Angelegenheit habe ich bereits meinen allerersten Brief an die neue Bauministerin verschickt. Und eigentlich brauchen wir ein Mieterschutzgesetz, das in Regionen mit einem angespannten Mietmarkt eine Mieterhöhung für einen bestimmten Zeitraum – zum Beispiel fünf Jahre – untersagt.
Das neue Baulandmobilisierungsgesetz schafft in gewisser Weise schon solche Möglichkeiten.
Die dafür nötige Verordnung wurde aber in Bayern bisher nicht erlassen – was mich gewaltig ärgert. Es scheint für den Freistaat offenbar eine schwierige Feststellung zu sein, dass der Mietmarkt in München angespannt ist.
Sie hatten von der neuen Bundesregierung die Einrichtung eines Kommunalministeriums gefordert. Daraus ist nichts geworden.
Leider. Ich hätte gerne einen Praktiker im Kabinett sitzen, der sich als Stimme der Kommunen versteht. Mir würde schon ein Staatssekretär als Bindeglied genügen. 60 Prozent der Menschen in Deutschland leben in Metropolen. Ich werde dieses Thema aber bei meinen nächsten Treffen mit Bundespolitikern wieder ansprechen.
Die CSU kritisiert heftig, dass bei der Vergabe der Ministerien keine bayerischen Politiker berücksichtigt worden sind. Stört Sie das genauso?
Also wenn mich etwas nicht ärgert, dann ist es die Herkunft der Minister. Der geografische Proporz ist nicht das entscheidende Kriterium für die Leistungsfähigkeit von Menschen. Die besten Leute sollen die Ämter ausfüllen. Im Übrigen: Die bayerischen Vertreter in der letzten Bundesregierung waren nicht die allerbesten Aushängeschilder für die Annahme, dass es ohne Bayern nicht geht. Interview: Klaus Vick und Sascha Karowski *tz.de und Merkur.de sind Angebote von IPPEN MEDIA