Mord-Phänomen aus München-Tatort in Realität denkbar? Experte will „Einzelfall“ nicht ausschließen

Der aktuelle München-Tatort beschäftigt zahlreiche TV-Fans. Ein Neuropsychologe erklärt, wie unser Gedächtnis mit traumatischen Erlebnissen umgeht.
München - Der eine kann, der andere will sich nicht erinnern. Während der demente Psychologe Norbert Prinz (Peter Franke) im Münchner „Tatort“ gegen das Vergessen kämpft, hat sein Kollege Vonderheiden (André Jung) die von ihm begangene Gewalttat tief im Keller seiner Psyche versteckt. Und das so gut, dass er sie selbst nicht mehr findet. Ein Krimi, der am Sonntag (19. Juni) faszinierende Erkenntnisse über das menschliche Gehirn lieferte. Aber gibt’s das wirklich, dass ein Mörder seine Tat bewusst vergisst?
Experte über München-Tatort: „Nicht ausschließen, dass so etwas im Einzelfall passieren kann“
„Anders als im ,Tatort’ gelingt es den meisten Menschen nicht, ein Trauma einfach auszulöschen“, sagt Nikolai Axmacher, Leiter der Neuropsychologie der Ruhr-Uni Bochum. „Ich will nicht ausschließen, dass so etwas im Einzelfall mal passieren kann, aber in der Regel ist es eher so, dass traumatische Erlebnisse besonders stark erinnert werden.“

Posttraumatische Belastungsstörung heißt das Krankheitsbild, das der Psychologie-Professor erforscht. Um dieses Phänomen besser verstehen zu können, nimmt Axmacher die Gedächtnisleistung von gesunden und erkrankten Menschen unter die Lupe, untersucht, welche Hirnstrukturen an der Entstehung beteiligt sind. „Bei einer traumatischen Erfahrung wird das Gehirn mit den Stresshormonen Cortisol und Noradrenalin überflutet. Sie aktivieren Warnsysteme wie die Amygdala, die in unserem Gehirn sitzt und Flucht- oder Furchtreaktionen auslöst.“
„Nicht selten tauchen wie im ,Tatort’ Flashbacks auf“
Während alltägliche Erfahrungen im benachbarten Hippocampus, der Heimat unseres Gedächtnisses, abgespeichert werden, wandern traumatische Erlebnisse in die Amygdala. „Und das macht ihre Erinnerung unberechenbar. Nicht selten tauchen wie im ,Tatort’ Flashbacks auf. Es läuft immer der gleiche Film im Kopf ab, den ich selbst kaum kontrollieren kann.“
Auch der Mörder im Krimi wird von diesen bruchstückhaften Rückblenden heimgesucht, ohne sie seiner Tat zuordnen zu können. Aber wie wird man zum Meister einer solchen Verdrängung? Dafür müsse ein enormer Selbstwert-Konflikt vorliegen, erklärt Axmacher. Gemeint ist ein großer Widerspruch zwischen dem erwünschten und dem wahrgenommenen Selbstbild. „In diesem Fall können Menschen bewusst oder unbewusst diesen Konflikt unterdrücken. Als Ergebnis leiden sie zwar immer noch an negativen Gefühlen und eventuell auch an körperlichen Symptomen wie Bauchschmerzen oder Herzrasen, wissen aber nicht, woher diese Beschwerden kommen.“
München-Tatort liefert interessante Erkenntnisse über das menschliche Gehirn
Die Münchner Kommissare lösen den Fall nach mehr als 30 Jahren und konfrontieren den Täter mit dem Mord, den er aus seiner Biografie ausgeklammert hat. Dafür wenden sie die Reminiszenztherapie an, mit der aktuell in der Pflege von dementen Menschen gearbeitet wird. Dabei werden mit Gerüchen, Gegenständen und Geräuschen Brücken in die eigene Vergangenheit gebaut.
Lässt sich durch solche so genannte Trigger tatsächlich auch eine traumatische Tat heilen? „Das ist kein gängiges Verfahren“, sagt Axmacher im Gespräch mit unserer Zeitung. „Es geht allerdings bei der Traumatherapie neben der Stabilisierung der Patienten, bei der eine Konfrontation mit dem Trauma vermieden wird, durchaus um eine schrittweise und vorsichtige Bearbeitung der quälenden Erinnerung. Natürlich im geschützten therapeutischen Rahmen.“