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Wegen Corona: Häusliche Gewalt in München steigt dramatisch an - Opfer sind oft noch Kleinkinder

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Von: Andreas Thieme

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Symbolbild Schütteltrauma
Gewalt in Familien nahm während der Pandemie zu - vor allem gegen Kinder © Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/dpa/Illustration

Mehr Zeit zuhause und mehr Probleme: Die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt ist in Bayern 2020 angestiegen, wie der Weiße Ring und das Landeskriminalamt bestätigen. Opfer sind nicht nur Frauen, sondern häufig Kindern - auch dann, wenn sie zu Zeugen von Gewalt im familiären Umfeld werden.

München - Schlimme Erkenntnis in der Pandemie: Häusliche Gewalt hat im ersten Jahr der Corona-Pandemie im Freistaat zugenommen. „Wir sehen einen deutlichen Anstieg“, sagt Jörg Ziercke vom Weißen Ring. Sprunghaft sei dieser „vor allem nach den Lockdowns in 2020 und 2021“ gewesen. Laut einer Analyse des Landeskriminalamtes gab es 2020 in Bayern 20234 Fälle, 2998 davon in München.

Betroffene von Gewalt in der Partnerschaft berichten häufiger von leichten bis schweren körperlichen Übergriffen – und vor allem öfter von massiver psychischer Gewalt. Dazu zählten Demütigungen und Psycho-Terror, der nicht selten in Morddrohungen oder Drohungen in Bezug auf Kinder mündete.

München: Anteil männlicher Gewalttäter steigt auf 90 Prozent

Der Anteil männlicher Tatverdächtiger sei im Vergleich zum Jahr 2019 um zehn Prozent auf nunmehr 90 Prozent gestiegen. Das zeigt: Die Gewaltbereitschaft von Männern in Partnerschaften mit Kindern habe im ersten Jahr der Pandemie sichtbar zugenommen. Mit Verweis auf eine Dunkelfeldstudie kommen das Landeskriminalamt zu dem Schluss, dass das Risiko von Gewalt an Frauen und Kindern vor allem während den pandemiebedingten Ausgangsbeschränkungen angestiegen sei. Ursachen dafür sind die unsichere Kinderbetreuung, die Angst vor Arbeitsplatzverlust und die damit verbundenen finanziellen Sorgen. Das alles führe zu einer hohen Mehrfachbelastung, die wiederum gewalttätige Strukturen verstärke. Gleichzeitig wendeten sich Hilfesuchende während der Lockdown-Phase kaum an die Beratungsstellen – außer in Extremsituationen.

Gewalt gegen Frauen
Die Zahl der angezeigten Gewalttaten unter Paaren und Ex-Partnern ist 2020 noch stärker gestiegen als in den Jahren zuvor. In den meisten Fällen sind Frauen die Opfer. © Maurizio Gambarini/dpa

Ein Pandemie-Effekt zeigt sich laut Weißem Ring auch beim bundesweiten Opfer-Telefon: Die Anfragen seien 2020 und 2021 deutlich gestiegen; derzeit führen die 75 Mitarbeiter durchschnittlich 1822 Gespräche im Monat – rund 300 mehr als 2019. Für die 49 Mitarbeiter der Onlineberatung verdoppelte sich die Zahl der Beratungsanfragen sogar: 3352 Ratsuchende gab es vergangenes Jahr.

Häusliche Gewalt: In 8000 Fällen waren die Kleinkinder anwesend

Die Fälle von häuslicher Gewalt machen beim Weißen Ring mittlerweile fast ein Fünftel aller bearbeiteten Opferfälle aus. Doch nicht jedes Opfer kann um Hilfe bitten. Nach Angaben des Landeskriminalamtes waren bayernweit in 8000 Fällen Kinder anwesend, als es zu Gewalt zwischen den Eltern kam. In München liegt die Zahl bei 1428. „Das ist eines der traurigsten Themen“, weiß Psychologin Carmen Osten, die seit 30 Jahren im Kinderschutzzentrum München arbeitet. Denn die Welt der Kinder, getragen von familiärer Sicherheit, zerbreche in solchen Situationen. In ihrer emotionalen Entwicklung werden Kinder oft schwer beeinträchtigt. „Gewalterfahrungen sind einer der schädigensten Faktoren“, so Osten.

Als Gewaltfall zählt nicht nur, wenn Kinder selbst geschlagen werden – sondern auch, wenn sie vernachlässigt oder Zeuge von Gewalt werden. Zwei Drittel der unter Zweijährigen sind laut Landeskriminalamt davon betroffen, sowie gut jedes zweite Kind ab zwei Jahren.

Monatelanger Stress zuhause - Psychologen warnen vor „eskalierender Beziehungssituation“

Eine grundsätzliche Zunahme von Gewalt in der Pandemie bestätigt auch Carmen Osten. Finanzielle Probleme, Quarantäne, beengte Wohnverhältnisse: „Wenn die Stressoren zunehmen, steigern sich auch Angst und Wut.“ Als „impulsive Durchbrüche“ bezeichnet sie es, wenn sich die Gewalt im Stress dann entlädt.

Experten warnen hier vor einer „eskalierenden Beziehungssituation“: Wenn Eltern also kurz vor der Trennung stehen und über Monate hinweg Stress in Familien entsteht. Die Pandemie bedeutet für viele Menschen auch, dass man nichts an der aktuellen Situation und am Stress nichts ändern kann. „Es geht um das Aushalten“, sagt Osten. „Aber viele sind ohnehin belastet.“ Wer Hilfe sucht, bekommt sie aber in Beratungsstellen. „Wir bieten nach wie vor Unterstützung an“, heißt es vielerorts.

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