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Komplette Münchner Familie hilft bei Zensus-Befragung: „Viele erzählen auch von ihrem Leben“

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Die ganze Familie Habermann hilft bei der Befragung für den Zensus mit. Was sie dabei alles erlebt haben, erzählen sie im Interview.

München – Seit Mitte Mai sind in Bayern rund 20.000 Interviewer für den Zensus 2022 unterwegs. Es sind keine Profis, sondern Ehrenamtliche wie die Familie Habermann aus München. Edith Habermann (49) arbeitet im wahren Leben als Tagesmutter, Ehemann Klaus (54) ist Müllfahrer bei der Stadt München. Die Habermanns sind eine Patchwork-Familie, ein bunter Haufen, der zusammenhält – sogar beim Zensus. Auch Ediths Kinder Dominik (24) und Patricia (27) machen mit, der künftige Schwiegersohn Peter (27), seine Schwester Tanja (32) und deren Mann Kevin (33). Ganz schön verrückt! Wie es dazu kam, warum sich nicht immer alle Wohnungstüren öffnen und warum mancher Besuch viel länger dauert als geplant, erzählen Edith, Klaus und Dominik hier.

Edith, Sie haben den Stein ins Rollen gebracht...

Edith: Ja, ich war’s! (lacht) Mein Mann arbeitet bei der Stadt und seinem Lohnzettel lag ein Papier bei, dass noch Erhebungsbeauftragte für den Zensus gesucht werden. Da bin ich drüber gestolpert. Ich bin jemand, der sich viel ehrenamtlich engagiert und ich hab mir gesagt: Komm, das machen wir! Dann habe ich uns beide angemeldet.

Zensus 2022: Mutter Edith bringt das Ganze ins Rollen

Dabei blieb es aber nicht...

Edith: Nein (lacht). Ich habe nach der ersten Zensus- Schulung meine Tochter Patricia gefragt, die hat ihren zukünftigen Mann gefragt, der hat wiederum seine Schwester gefragt und die hat dann ihren Mann gefragt. Und mein Sohn Dominik wollte dann auch. So kam es, dass am Ende alle dabei waren.

Herr Habermann: Was haben Sie sich denn gedacht?

Klaus: Jaaa (überlegt). Der erste Gedanke war schon: Sakradi, warum zieht sie jetzt da alle mit ins Boot. Aber Ehrenamt ist ja was Schönes und Bereicherndes. Im Nachhinein bin ich sehr dankbar, weil man Erfahrungen macht, die einen im Leben schon ein Stück weit prägen.

An welcher Stelle hat es dich erwischt, Dominik?

Dominik: Ich habe meine Mutter angerufen, da waren beide gerade unterwegs, die Unterlagen für den Zensus abholen. Da bin ich ins Überlegen gekommen: Was ist denn dieser Zensus eigentlich? Es ist ja schon interessant, zu Leuten zu fahren, sie zu befragen und die Geschichten von Menschen zu hören. Dann habe ich gefragt, ob man noch mitmachen kann. Man konnte.

Edith: Ich hab mich total gefreut, dass ich so ein kleine Welle ausgelöst habe. Es ist ja für was Gutes.

Die Familienbande scheinen sehr stark zu sein.

Edith: Familie ist das A und O, sie steht an erster Stelle. Bei uns passt es – und wenn mal was nicht passt, muss man eben reden.

Klaus: Meine Frau kommt gebürtig aus Polen, da wird Familiensinn größer geschrieben als bei uns Deutschen. Das prägt einen. Es geht nichts über Familie – und so eine Sache wie der Zensus zeigt einem dann wieder, dass es offenbar gut läuft.

Zensus 2022: Befragung bringe „viel Lauferei“ mit sich

Aber Sie haben sich mit dem Zensus ganz schön viel aufgeladen – neben der normalen Arbeit?

Edith: Natürlich. Ich arbeite als Tagesmutter und habe vier Tageskinder, mein Mann arbeitet Vollzeit bei der städtischen Müllabfuhr.

Klaus: Ja, den Zensus macht man nicht nebenbei, sondern nach der Arbeit oder am Wochenende. Ich muss rund 150 Leute befragen, meine Frau so um die 130. Du musst dir vor Ort die Gegebenheiten anschauen: In welchen Häusern befrage ich? Meine Frau hat einen riesigen Wohnblock mit acht Stockwerken. Dort werden alle befragt. Ich habe drei größere Objekte und sonst lauter Einfamilienhäuser. Da hast du viel Lauferei. Man muss die Termine planen, die Terminbriefe in die Briefkästen werfen und damit rechnen, dass Termine kurzfristig abgesagt werden. Aus Zeitgründen – oder weil jemand Angst hat.

Dominik: Also ich werde die Planung ein bisschen geschickter machen als meine Eltern (lacht). Ich trage meine Termine in Excel-Tabellen ein und lasse sie interagieren. Das macht es einfacher. Ich habe das auch meinen Eltern angeboten, aber irgendwie...

Klaus: Wir machen das noch händisch – und das läuft bisher recht gut (klopft zur Bestätigung drei Mal auf den Tisch).

Sie haben Absagen aus Angst erwähnt. Was haben Sie bisher alles erlebt?

Edith: Das ist so unterschiedlich. Sehr, sehr viele Leute sind supernett. Sie bieten einem etwas zu trinken an und sind freundlich. Viele erzählen auch von ihrem Leben.

Worum es beim Zensus 2022 geht und woran man einen echten Interviewer erkennt

Seite Mitte Mai sind rund 100.000 Befrager für den Zensus 2022 ausgeschwärmt, rund 20.000 davon in Bayern. Die bundesweite Erhebung von Daten zu Bevölkerung, Wohnraum, Mieten, Heizung, Bildung und Erwerbstätigkeit soll drei Monate dauern. Die neuen Statistiken für Bund und Länder sollen dann im November 2023 veröffentlicht werden.

Wer zum stichprobenartig ausgewählten Teil der Bevölkerung gehört, hat keine Wahl: Man ist auskunftspflichtig, sonst droht ein Zwangsgeld. In Bayern werden rund 2,38 Millionen Bürger befragt. Die Ergebnisse sind Grundlage politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen, außerdem wird die genaue Bevölkerungszahl ermittelt. Es wird nicht nach Einkommen, Ausweisdokumenten oder Passwörtern gefragt. Die Befragung dreht sich etwa um Alter, Familienstand, Fragen zur Schulbildung oder zum Beruf. Die Erhebung soll bis Mitte August abgeschlossen sein. Außerdem werden Auskünfte sämtlicher Eigentümer von Wohnungen oder Wohngebäuden eingeholt. Überraschende Besuche gibt es nicht – außer, man hat die Post nicht geöffnet. Die Teilnehmer werden nämlich vorab schriftlich informiert. In der Ankündigung stehen der Termin samt konkretem Zeitfenster sowie die Kontaktdaten des Interviewers. An der Türe weisen sich die sogenannten Erhebungsbeauftragten mit einem Zensus-Ausweis aus. Zudem müssen sie einen amtlichen Lichtbildausweis vorzeigen können.

Tatsächlich?

Edith: Ja, vor allem ältere Leute. Ich hatte ein sehr langes Gespräch mit einer Frau, die einfach froh war, mal wieder mit jemandem reden zu können. Sie hat mir von ihrem Leben erzählt, ich habe ihr zugehört. Sie hat sich bedankt, es war sehr herzlich. Normalerweise dauert die Befragung fünf Minuten. Ich war eine Dreiviertelstunde da.

Familienvater Klaus über die Zensus-Befragungen: „Als Gesprächspartner, manchmal fast als Therapeut“

Waren Sie darauf vorbereitet, nicht nur Befrager zu sein?

Edith: Ich hatte eher gedacht, dass ich auf viele Menschen treffe, die sauer sind, dass sie mitmachen müssen. Bisher stand ich nur zwei Mal vor der Tür, die anderen haben mich hereingebeten. Aus meiner Arbeit bei der Nachbarschaftshilfe weiß ich aber, dass es viele einsame Menschen in dieser Stadt gibt. Deswegen plane ich so viel Zeit ein, dass man auch reden kann. Ich habe gewusst, dass es so kommen wird.

Klaus: Man terminiert so, dass man als Gesprächspartner, manchmal fast als Therapeut, die Zeit hat. Die Leute danken das auch und sagen: Das hat gutgetan, mal wieder mit jemandem zu reden.

Man dringt in einen fremden Lebensbereich ein. Wie fühlt sich das an?

Edith: Es ist spannend. Man sieht nicht nur verschiedene Einrichtungen, sondern erlebt auch verschiedenste Kulturen. Ich habe ein Haus mit mehreren ausländischen Familien. Das sind teilweise schon andere Welten.

In nehme an, nicht jeder ist begeistert, wenn Sie zur Befragung kommen?

Edith: Ich sag mal, zu 98 Prozent sind die Leute freundlich. Aber klar, es gibt auch Ausnahmen. Heute zum Beispiel musste ich ein Interview durch die geschlossene Wohnungstür führen. Es war eine jüngere Frau, die wollte nicht öffnen. Das war schon komisch, da geht man mit keinem guten Gefühl weg.

Klaus: Es ist teilweise erfreulich, wie man empfangen wird, teilweise ernüchternd. Eine ältere Dame hat mich durch den Spion begutachtet und mit jemandem telefoniert. Sie hat ins Telefon gesagt: „Da steht so ein Dicker vor der Tür – den kenn ich nicht, der kommt mir nicht rein.“ Und dann hat sie gerufen: „Schleich dich da draußen.“ Ein Nachbar hat mir dann erzählt, dass die Frau schon mal Opfer eines Enkeltrickbetrügers geworden ist. Sie ist über 90 und hatte einfach Angst.

Konnte der Nachbar Ihnen helfen?

Klaus: Ich habe ihn gefragt, ob er mitgeht, aber er hat dazu geraten, sie nicht weiter zu behelligen, weil sie seit dem Vorfall große Angst hat. So habe ich es gemacht.

Muss die Frau mit einer Strafe rechnen? Die Teilnahme am Zensus ist ja verpflichtend. Wer sich weigert, dem droht ein saftiges Bußgeld.

Klaus: Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich habe diesen Fall gemeldet und auf den Hintergrund mit dem Enkeltrick hingewiesen. Es kam dann auch die Anweisung: Befragung sofort abbrechen.

Edith: Ich habe bisher zum Glück jeden dazu gebracht, Antworten zu geben.

Zensus 2022 in Bayern.
Die Befragungen für den Zensus 2022 sind im vollen Gange. © picture alliance/dpa/Daniel Karmann

Wissen denn alle, dass sie befragt werden sollen?

Edith: Nein. Viele öffnen die Post nicht. Ich habe deshalb auf die Kuverts geschrieben: „Keine Werbung, wichtige Terminsache“. Scheinbar hilft das etwas, denn ich habe viele meiner Briefe an Kühlschränken hängen sehen.

Vater Klaus zieht bei Zensus-Befragungen seinen Strohhut auf

Dominik, du hast die Befragungen noch vor dir. Freust du dich noch drauf, wenn du das hörst?

Dominik: Ich finde das alles sehr spannend. Wenn mir jemand etwas Privates erzählen will, ist das okay. Ich freue mich darauf.

Klaus: Dominik ist erst 24 und ich denke, das ist ein Vorteil. Die Jugend ist flexibler und lockerer in der Art, mit Dingen umzugehen. Ich bin übergewichtig und glatzköpfig – das ist an der Tür schon ein Problem (lacht). Ich ziehe jetzt einen Strohhut auf, um das zu entschärfen und auch den älteren Leuten etwas die Angst zu nehmen.

Das funktioniert?

Klaus: Ja. Der Hut nimmt ein bisschen Härte weg – da sind die Leute tatsächlich dankbar dafür. Viele entschuldigen sich später, dass sie Angst vor mir hatten. Man muss auf diese Ängste engehen. Erst heute hatte ich einen Herrn, der hat mir klar gesagt: „Ich lasse keinen in mein Haus, das müssen Sie verstehen.“ Dann macht man die Befragung eben an der Tür – oder draußen am Müllhäuschen. Da muss man flexibel sein.

Wurden Sie auf solche Situationen vorbereitet?

Klaus: Ja schon. Aber am Ende muss man sehr individuell reagieren, denn man blickt nicht rein in die Menschen – wir nicht und der Zensus auch nicht. Eine Frau hatte zum Beispiel die Sorge, die Behörden würden ihr Leistungen streichen. Die Sorge ist nicht berechtigt, aber sie ist da. Eine andere Frau hatte Angst, Schwierigkeiten zu bekommen, wenn eine Angabe nicht richtig ist. Sie wusste nicht mehr genau, wann ihr Mann, kein gebürtiger Deutscher, einst nach Deutschland kam. Solche Ängste muss man ernst nehmen.

Edith: Ich hatte einen älteren Herrn, der mir vom Zweiten Weltkrieg erzählt hat. Da bekommt man schon Gänsehaut. Aber es gibt auch viele schöne Erlebnisse. Ich habe zum Beispiel Landsleute aus Polen kennengelernt. Wir haben uns auf Polnisch unterhalten, es gab Kaffee und Kuchen. Und wir haben uns über ihre Hochzeit unterhalten – sie heiraten eine Woche vor meiner Tochter.

Dominik, qas haben deine Freunde dazu gesagt, dass du Befrager wirst?

Dominik: Sie haben gefragt: Gibt es dafür Kohle? (lacht)

Zensus 2022: Aufwandsentschädigung für Befragende

Und? Gibt es Kohle?

Edith: Es ist ein Ehrenamt mit Aufwandsentschädigung. Es gibt eine Telefonpauschale und auch das Benzin und die Kilometer werden bezahlt. Man muss die Fahrten ordentlich dokumentieren. Vielleicht wäre da auch eine Pauschale besser gewesen.

Klaus: Je nachdem, wie viele Leute man befragt, bekommt man etwas mehr oder weniger. Aber wegen dem Geld machen wir das nicht.

Edith: Als wir uns beworben haben, wusste ich gar nicht, dass es Geld gibt. Das stand in dem Schreiben, das dem Lohnzettel meines Mannes beilag, nicht drin.

Am Ende sind es die vielen Erfahrungen, die bleiben?

Klaus: Definitiv. Es gibt auch skurrile Situationen, zum Beispiel wenn man eine 94-jährige Dame fragen muss, ob sie von 9. bis 15. Mai in einer Allgemeinschule war.

Macht eher keinen Sinn, die Frage...

Die Dame hat geantwortet: Ja. Da habe ich verblüfft geschaut. Dann hat sie gesagt: „Ich bin jeden Tag in der Schule des Lebens, ich nehme jeden Tag an einem Unterricht teil.“ Sakradi, habe ich mir gedacht – die Frau ist 94 Jahre alt und gibt so eine Antwort! Das gibt einem viel mit auf den Weg nach Hause.

Das Interview führte Wolfgang Hauskrecht.

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