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Münchner erzählen: So lebt es sich mit Hartz IV

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Vom Amt gegängelt: Siegfried Hecker (66). © S. Jantz

München - Die tz zieht eine Münchner Bilanz: Wir lassen die Zahlen und Fakten sprechen – und vor allem die Betroffenen. Zehn Jahre danach: So leben wir mit Hartz IV!

Fördern und fordern: Das war die Devise, als zum 1. Januar 2005 die Arbeitslosenhilfe abgeschafft und das ­Arbeitslosengeld II eingeführt wurde – besser bekannt als Hartz IV. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hatte mit der „Agenda 2010“ den Arbeitsmarkt liberalisiert und die Sozialsysteme reformiert. Fast eine halbe Billion Euro Stütze sind in den vergangenen zehn Jahren bundesweit geflossen – und noch immer haben die Deutschen keinen Frieden mit Hartz IV gemacht. Schröders SPD hätte es fast zerrissen: Die Wirtschaft lobt das Programm gestern wie heute, während die Gewerkschaften noch immer auf die Barrikaden gehen. Die tz zieht eine Münchner Bilanz: Wir lassen die Zahlen und Fakten sprechen – und vor allem die Betroffenen. Zehn Jahre danach: So leben wir mit Hartz IV!

Die langjährige Bilanz in München

JahrHartz IV-QuoteHartz IV-Bezieher– darunterArbeitslose– davonLangzeit
20066,9%53 40031 759k. A.
20076,8%53 03426 61317 259
20086,6%51 22124 05313 307
20096,7%52 68224 58711 921
20107,0%55 10623 85810 879
20116,7%53 49023 0749739
20126,5%51 66222 1519159
20136,4%51 76123 0179908
20146,5%52 55323 1259780

Anmerkungen: Alle Zahlen beziehen sich auf 15- bis 67-jährige Berechtigte. Stand 2014: Ende August. 2005 nicht vergleichbar.

Die Hartz-IV-Strafen 2013

GrundZahl
Meldeversäumnis im Jobcenter3923
Weigerung zu Arbeit oder Ausbildung1020
Verweigerung der Eingliederungsvereinbarung (z. B. Bewerbungen oder Schuldnerberatung)855
Sperrzeit nach Arbeitslosengeld I453
Meldeversäumnis beim ärztl./psycholog. Dienst49
Verminderung von Einkommen oder Vermögen12
Fortsetzung unwirtschaftlichen Verhaltens3

Mehrere Strafen pro Empfänger möglich.

Kaum eine Gruppe wird aus der Mitte der Gesellschaft so angefeindet wie die Hartz-IV-Empfänger: „Faul“, „doof“, vor allem aber „arbeitsscheu“ werden sie oft geschmäht. Selbst über ihre vermeintlich monströsen Flachbildfernseher philosophieren Besserwisser gern. Dabei muss man aus Münchner Sicht festhalten: Selbst wenn es hier solche „Hartzer“ gibt, dann sind es so wenige, dass sie kaum der Rede wert sein dürften.

Seit Jahresanfang bekommen sie alle bis zu 399 Euro zum Leben im Monat, dazu die Miete und die Nebenkosten. Doch Hartz-IV-Empfänger ist nicht gleich Hartz-IV-Empfänger, das zeigt schon ein erster Blick auf die neuesten Zahlen des Jobcenters (siehe erste Grafik rechts): Unter den 75 000 Beziehern ist fast jeder dritte ein Kind von Hartz-IV-Empfängern. Viele können gar keinem Job nachgehen, weil sie zur Schule gehen, ganz kleine Kinder allein erziehen, Angehörige pflegen – oder in Schulungen stecken. Fast 15 000 Hartz-IV-Empfänger arbeiten sogar, da­runter 5000 in Vollzeit. Aber ihnen zahlt der Chef im noblen und erfolgreichen München nicht genug Gehalt, um damit über die Runden zu kommen – sie sind „Aufstocker“. Rund 22 000 der Hartz-IV-Empfänger gelten als arbeitslos, davon nicht einmal die Hälfte als langzeitarbeitslos.

Nur rund jeder 20. Münchner kassiert Hartz IV – das ist ein Minus-Rekord! Die Quote liegt selbst in vergleichsweise wohlhabenden Städten wie Frankfurt, Hamburg oder Köln rund doppelt so hoch. Da schneiden sogar die Münchner Problemviertel in Milbertshofen-Am Hart, Ramersdorf-Perlach oder Berg am Laim besser ab. Praktisch keine Bezieher gibt’s im Zentrum.

Das Münchner Jobcenter zieht eine positive Bilanz. Chefin Martina Musati sagt der tz: „Die Zusammenführung von Sozial- und Arbeits­losenhilfe war der richtige Schritt.“ Verdeckte Arbeitslosigkeit sei endlich offengelegt worden, alle Betroffenen bekämen die gleiche Förderung aus einer Hand. In den Münchner Sozialbürgerhäusern gibt es zum Beispiel auch Schuldner- und Suchtberatung. „Die größten Erfolge wurden bei der Bekämpfung der Langzeit­arbeitslosigkeit, der Arbeitslosigkeit von Jugendlichen und von Alleinerziehenden erzielt.“ Denn die Jobvermittler verschaffen 27 Prozent, also jedem vierten Empfänger jährlich eine neue Stelle. So hat sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen in München fast halbiert (siehe Tabelle)! Und die Münchner Hartz-IV-Empfänger sind braver als im Rest der Republik: Die Strafquote liegt bei 2,1 Prozent, bundesweit bei 3,3 Prozent. Häufigster Grund: Termin verpasst!

In die Lobeshymnen stimmen die Gewerkschaften nicht ein. Verdi-Chef Heinrich Birner sieht das größte Problem im Druck, wegen der geringen Stütze jede Hilfsarbeit anzunehmen: „Durch Hartz IV ist der Niedriglohnsektor erst entstanden.“ Wegen der Billigjobs falle später die Rente viel kleiner aus: „Da rollt eine Welle an Altersarmut auf uns zu.“ Zudem zahlt der Bund überall die gleichen 399 Euro Stütze – im teuren München wie in der ostdeutschen Provinz. Gewerkschafter Birner fordert regional unterschiedliche Sätze: „In München müsste es eigentlich 500 Euro geben!“

Weniger Geld wäre auch okay

Hartz IV

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Lebt mit Hartz IV ganz gut: Dorothea Haber. © Scharnagl

reicht hinten und vorne nicht? „Quatsch. In München könnte man den Regelsatz sogar senken – alle würden durchkommen.“ Der Satz fällt nicht etwa am Stammtisch, wo wuchtige Herren bei einem Glas Bier über „die Arbeitslosen“ schimpfen. Dorothea Haber (49, Name geändert) sagt ihn, bei einer Tasse Tee im Aufenthaltsraum der Obdachlosenhilfe St. Bonifaz. Die Juristin lebt seit sechs Jahren von Hartz IV, wohnt in einem Heim für Wohnungslose und sagt: „Ich habe damals die SPD gewählt. Also trage ich das jetzt auch mit!“

Weniger als 400 Euro im Monat – für Haber kein Problem. „Es gibt so viele zusätzliche Anlaufstellen: all die Suppenküchen, all die Kleiderkammern. Die Münchner sind sehr hilfsbereit.“ Ein Leben ohne Internet, Telefon, Fernseher? „Na und? Wir leben in einer Großstadt, an jeder Ecke gibt es Internetcafés.“ Am Monatsende bleibt Haber sogar manchmal Geld übrig. Sie geht dann mal ins Kino, in die Oper oder fährt mit dem Zug nach Regensburg. Früher war Haber viel unterwegs, hat im Ausland studiert, dann jahrelang als Dolmetscherin in München gearbeitet. Für Urlaube reicht das Geld heute nicht mehr. „Ich arbeite nicht, also habe ich auch nichts, wovon ich mich erholen müsste. Ich habe immer Urlaub.“ Sie sagt, sie habe sich abgefunden mit ihrem Leben in der Bedürftigkeit. „Klar: Für andere ist dies unmöglich.“ tos

Zurück im Job: Sie hat’s geschafft!

Manuela Kuban hat alles getan, um einen Job zu finden. Dennoch ist die heute 26-Jährige zum Hartz-IV-Falle geworden. Doch sie wurde nicht mürbe, kämpfte weiter. Nach zahllosen Absagen ist sie erfolgreich zurück im Job – und das schon seit über zwei Jahren.

„Diese

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Manuela Kuban (26) hat sich aus der Hartz-IV-Falle herausgekämpft. © Bodmer Oliver

ewige Suche macht dich irgendwann mürbe“, sagt Kuban. In ihrer Heimat Sachsen schrieb sie mindestens zehn Bewerbungen pro Monat, nachdem die gelernte Verkäuferin keine Stelle gefunden hatte. Irgendwann entschloss sich Kuban, ihre Zelte abzubrechen und in ganz Deutschland nach einem Job zu suchen. In München fand sie dann ihr Glück. Sie wurde Service- und Sicherheitsmitarbeiterin bei Securitas. Nach zwei Jahren raus aus der Hartz-Falle! „Ich war so froh und bei der neuen Firma wurde mir der Einstieg leicht gemacht“, schildert sie. Bei verschiedenen Firmen sitzt sie am Empfang, begrüßt Gäste und bringt sie zu Terminen. „Das macht mir einfach Spaß“, schildert sie. Vor einem Jahr wollte sie aus privaten Gründen nach Nürnberg umziehen. Securitas unterstützte sie dabei und hat sie bei einem Kunden in Franken untergebracht. Seither arbeitet sie in der Niederlassung des Paketzustellers TNT express. Hartz IV ist für Manula Kuban Geschichte!

Genervt hat nur das Amt

Siegfried Hecker (66) hatte 40 Jahre geschuftet, war 40 Jahre fleißig, hatte 40 Jahre gut verdient und eingezahlt. Dann ging sein Arbeitgeber pleite – und das Schicksal wollte, dass er nach Arbeitslosigkeit, Krankheit und Reha abrutscht. Hartz IV, 348 Euro im Monat.

Das war 2006. „Ich habe mir nie etwas dabei gedacht“, sagt der Werkzeugmachermeister heute. „Ich war immer der festen Überzeugung, dass ich wieder eine Arbeit finde.“ Fast 300 Bewerbungen schrieb er, aber nicht einmal jede zehnte Firma antwortete überhaupt, um ihm abzusagen. Eine Fortbildung musste er sich erkämpfen. Man habe ihm bedeutet, er sei mit seinen bald 60 Jahren „ohnehin zu alt“.

Doch selbst in der Langzeitarbeitslosigkeit legte der Obersendlinger nicht die Füße hoch: Er durfte bis zu 100 Euro hinzuverdienen, also kontrollierte er dann und wann inkognito Supermärkte in ganz Bayern. Ob die Regale aufgeräumt sind, ob die Lebensmittel noch haltbar sind, ob die Kassierer freundlich sind. Nebeneffekt: So konnte er sein Auto halten, ein Daewoo.

„Wir sind ganz gut über die Runden gekommen“, zieht Hecker Bilanz, obwohl auch seine Frau Sonja nur eine Mini-Rente bekam. Das Amt übernahm Miete und Nebenkosten, den Urlaub hatten sie zuvor schon bezahlt, niemand redete schlecht über ihn. Genervt habe nur das Amt: „Das Hingehen, Bitten und Betteln, das war das Schlimmste.“ Fehlte angeblich ein Dokument – Stütze-Kürzung! Einmal wollte der Sachbearbeiter ihm sogar eine Fahrt nach Garmisch verbieten.

Nach zwei Jahren hatte er genug: Er ließ sich die Frührente berechnen. Trotz Abschlägen von 18 Prozent bekam er viel mehr raus als mit Hartz IV! So machte er zum 60. Geburtstag – unfreiwillig – für immer Feierabend.

Schritt für Schritt in die Armut

Ihr Studium hat sie in die Armut getrieben. Was sich so absurd anhört, war für Gabriele Hammer Realität. Selbstmordgedanken? „Beinahe täglich“, gibt sie zu. In der tz spricht die 53-jährige Nürnbergerin über ihr einstiges Leben mit Hartz IV.

Ihre Zukunft schien sich nach dem Studium der Kunstgeschichte in geordneten Bahnen zu entwickeln. Verheiratet, eine Tochter,

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Gabriele Hammer (53). © Heininger

ein Job. Dann lernte Gabriele Hammer einen anderen Mann kennen. Es war Liebe. Ihre Ehe ging in die Brüche. Es folgte die zweite. Mit ihrem neuen Ehemann gründet sie einen Kunstverein, arbeitet dort umsonst. „Ich war von meinem Mann abhängig“, sagt Hammer. Doch auch dieses Glück währte nicht lange. Scheidung Nummer zwei war die Konsequenz. Gabriele Hammer stand vor dem Nichts. Ihre größte Niederlage: „Wieder zu den Eltern zurückkehren zu müssen.“ Zwischenzeitlich arbeitet sie bei der Deutschen Post und verschickt Briefmarken. „Aber ich war zu langsam, also hat man mich rausgeworfen.“ Eine Wohnung ohne Job, geplagt von Depressionen und ohne Mut, den Gang zur Behörde zu wagen …

„Ich habe mich verkrochen, mich zu sehr geschämt, ich war wie gelähmt“, schildert Gabriele Hammer. Dann war das Maß voll. „Ich habe mir gesagt: Dir geht’s echt scheiße, du musst dir helfen lassen!“ Die Frau erinnert sich: „Manchmal wollte ich mich einfach vor das nächste Auto werfen, nur damit alles ein Ende hat.“

Doch sie schöpfte neuen Lebensmut. Über die Obdachlosenhilfe beantragte sie Hartz IV. „Das war eine Erleichterung“, sagt sie. Der Staat bezahlte Miete und Krankenversicherung. 50 Euro pro Woche, mehr hatte sie nicht. „Ein Cappuccino war schon ein kleines Highlight“, erzählt Hammer.

Vor dreieinhalb Jahren ging Gabriele Hammer in Frührente. Sie kommt über die Runden. Auch, weil sie nebenbei einen Bilderverleih betreibt. Zusätzlich engagiert sich Gabriele Hammer bei einem sozialpsychiatrischen Dienst in Fürth. Ihr Anliegen: „Den Menschen etwas zurückgeben.“

Ein Überfall riss sie aus ihrem Leben

Es war der 30. April 2013. Der Tag, an dem sich das Leben von Barbara Eder (39) für immer veränderte.

Nach einem Überfall in ihrer Wohnung in Unterföhring lag die Mutter einer 15-jährigen Tochter sieben Tage lang im Koma. Erinnern kann sie sich an nichts. „Man hat mir auf den Kopf geschlagen“, sagt Eder. Sechs Tage lang lag sie in ihrer Wohnung. Wer der Täter war, ist bis heute nicht geklärt.

Der Fall wurde wegen mangelnder Beweise nicht weiter verfolgt. Und trotzdem: Barbara Eder hat ihre Vergangenheit akzeptiert. Nicht selbstverständlich, denn: Hinter der gelernten Steuerfach­angestellten liegt ein langer Leidensweg. Ihren Job hat sie verloren. Noch schlimmer: „Ich konnte nicht sprechen, war sogar eine Weile querschittsgelähmt.“ In ihre Wohnung kehrte sie nicht mehr zurück. Ein Obdachlosenheim hat sie aufgefangen. Seitdem lebt sie von Hartz IV. Heute wohnt Eder in einem Frauenwohnheim. „Mit 399 Euro kommt man klar. Es ist aber nur eine Übergangslösung“, betont sie kämpferisch. Dem Staat auf der Tasche liegen? „Das ist nichts für mich.“ Mit einem Ein-Euro-Job verdient sie 160 Euro im Monat dazu. Ab Mai will sich Barbara Eder einen festen Job suchen. Und in ein neues Leben starten.

„Man ist nichts mehr wert“

Wie

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Hartz-IV-Empfänger Reinhardt (63). © Götzfried

ein Stück Dreck. So hat sich Fritz Reinhardt (63) lange Zeit gefühlt: „An jedem, der Hartz IV bezieht, hängt das Mäntelchen des Penners, des Säufers, des faulen Nichtsnutzes.“ Freunde wenden sich ab, man gerät aufs Abstellgleis. Reinhardt hat alles erlebt – und kämpft bis heute mit Depressionen.

Früher arbeitete Reinhardt als Bankkaufmann im Ausland. Führungsposition, verheiratet. Dann: Geld weg, Frau weg, Haus weg. „Dafür kann ich niemanden verantwortlich machen. Das war meine Schuld.“ Mehr möchte er dazu nicht sagen. Er kam zurück nach Deutschland – ohne Geld, ohne Dach über dem Kopf. Am 14. März 2006 bekommt Reinhardt das erste Mal Hartz IV.

Heute plagen ihn Herzprobleme, ein hoher Blutdruck und Rückenschmerzen. Kürzlich bekam er zwei neue Hüftgelenke. Seit sieben Jahren wohnt Reinhardt in einer Einzimmerwohnung in Freimann. Die 555 Euro dafür zahlt das Amt.

Die Jobaussichten sind düster. „Ich hatte den Traum, mit einem 400-Euro-Job meine Rente aufzustocken.“ Mittlerweile sagt Reinhardt: „Ich werde auch im Alter in der Armutsfalle sitzen“.

Seit ein paar Jahren gibt Reinhardt in der Suppenküche der Franziskaner Essen an andere Bedürftige aus. 60 Euro kommen so im Monat dazu. Das macht 460 Euro. Auch ohne Taschenrechner ist klar: Das wird eng. Geld für neue Kleidung oder ein bisserl Luxus? Fehlanzeige. „Hartz IV ist eine Kasteneinstufung: Es gibt den Ober-, den Mittel- und den Untermenschen“, sagt Reinhardt. „Ohne die hilfsbereiten Menschen an meiner Seite wäre ein lebenswertes Leben nicht möglich!“

Die Arbeit in der Suppenküche ist überlebenswichtig und gibt seinem Dasein einen Sinn: „So weiß ich, warum ich morgens aufstehe.“

David Costanzo / Johannes Heininger

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