Hilferuf von Münchens einzigem alkoholfreien Treff: „Sicherer Hafen in einem Häusermeer aus Alkohol“
Seit 35 Jahren ist der alkoholfreie Treff ein Ort der Hilfe für Suchtkranke. Nun droht die Schließung: Die Caritas kündigt den Vertrag – trotz Rückhalt aus der Politik. Mitarbeiter und Gäste sind fassungslos.
München – Verzweiflung und Unverständnis schweben über den Räumen der Dachauer Straße 29 in der Nähe des Münchner Hauptbahnhofs. Alle scheinen sich einig zu sein: Der alkoholfreie Treff ist eine Institution. Ein Ort, der alkohol- und suchtkranken Menschen Sicherheit gibt, sie schützt. Doch das droht nun wegzubrechen. Der Vermieter Caritas hat den Mietvertrag gekündigt – zum Ende des Jahres läuft er aus. Der Grund: Das Gebäude sei stark sanierungsbedürftig. Seit mehr als einem Jahr stehen beide Seiten in Kontakt – ein Jahr durchzogen von Gesprächsangeboten, Vorwürfen und eingeschalteten Anwälten. Den Betroffenen ist klar: Der Treff darf nicht schließen. Parteiübergreifend gibt es Rückhalt.

Einziger alkoholfreier Treff in München droht, zu schließen
Jeden Donnerstag ist Schnitzel-Tag im alkoholfreien Treff, wenige Gehminuten entfernt vom Hauptbahnhof. „Da kommt alles, was Rang und Namen hat“, meint Iris lachend. Die 59-Jährige schaut fast jeden Tag vorbei. Neben „klassischem“ Schnitzel gibt es auch ein vegetarisches Angebot, wie Käse- oder Blumenkohlschnitzel. Gekocht werden die warmen und kalten Speisen von Menschen mit Suchtkrankheit.

Man wolle ein Umfeld schaffen für alle Bürgerinnen und Bürger der Stadt – vor allem für betroffene Menschen –, das ähnlich organisiert ist wie eine Gaststätte, erklärt Georg Grau, Geschäftsführer vom Club 29 e. V. Eine Gaststätte – aber alkoholfrei. Sucht man deutschlandweit nach vergleichbaren Konzepten, wird man selten fündig. In München ist der alkoholfreie Treffpunkt einzigartig – wenn nicht sogar in ganz Bayern, meint Grau.
Ein Ort, frei von Suchtmitteln und offen für alle in München
Der alkoholfreie Treff ist Teil des Projekts für die Integration Suchtkranker (Profis gGmbH), angesiedelt unter dem Club 29 e. V. In dem geschützten Raum für Betroffene arbeiten etwa 12 Köpfe, die von der Schließung betroffen wären und ohne Beschäftigung daständen. Seit 35 Jahren nun schafft das Projekt schon Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben. Der Münchner Merkur berichtete bereits im November 1988 über die Eröffnung. Das Sozialreferat, der Bezirk Oberbayern und die Caritas waren bei der Entwicklung des Konzepts beteiligt.
Im Wesentlichen werde die Einrichtung durch das Sozialreferat finanziert, so Georg Grau. Darunter fallen unter anderem die Betriebsleitung, eine Sozialpädagogen-Stelle sowie vier weitere Stellen mit gesonderter Vertragsgestaltung. „Menschen, die einen Sucht abhängigen Hintergrund haben und auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht mehr arbeitsfähig sind, sondern nur in geschützten Rahmen arbeiten können“, erklärt Grau. Dieses Jahr wurde das Begegnungsangebot mit 243.950 Euro bezuschusst, heißt es vom Sozialreferat auf Nachfrage.
120 bis 150 Mahlzeiten im Monat für bedürftige Menschen
Das Angebot sollte ausgebaut werden. Anfang 2020 stellte die Münchner SPD-Fraktion den Antrag, den alkoholfreien Treffpunkt zu einer Begegnungsstätte auch für Seniorinnen und Senioren auszubauen, so Edith Petry, Pressesprecherin vom Sozialreferat. Auftrag an das Sozialreferat war es, die Küche zu erneuern und bedarfsgerecht zu gestalten, für Seniorinnen und Senioren mit geringen Einkommen „kostenreduzierte bzw. kostenfreie Mittagsessen“ anzubieten sowie eine niederschwellige Beratung. Das Angebot werde mittlerweile sehr gut angenommen, so Petry. Pro Monat verteilt der alkoholfreie Treff etwa 120 bis 150 Mahlzeiten an bedürftige Menschen.

Das Sozialreferat steht hinter dem Treffpunkt. Am 14.10.2021 beschloss dann der Sozialausschluss des Münchner Stadtrats, dass die Küche und der Thekenbereich in der Dachauer Straße 29 erneuert werden sollte. Das Sozialreferat stellte einen Zuschuss in Höhe von 150.000 Euro in Aussicht. Die Bedingung der Verwaltung: ein Mietvertrag mit einer Dauer von zehn Jahren. Die Anforderung habe der Club 29 an den Vermieter Caritas weitergegeben, so Grau. Diesem Vertrag „wurde relativ schnell zugesagt per Mail, dann ist aber lange nichts passiert“, sagt Grau weiter, „nach mehrmaligen Nachfragen hat die Caritas dann mitgeteilt, dass sie sich es anders überlegt haben.“ Der Mietvertrag sei fehlerhaft, hieß es als Begründung. Ein Vertrag, der die Caritas den Angaben von Georg Grau selbst angefertigt habe.
Caritas München-Freising kündigt überraschend Mietvertrag
Küche und Thekenbereich wurden nicht saniert; der 150.000 Euro Zuschuss nicht bereitgestellt. „Bedauerlicherweise konnte diese Maßnahme bisher nicht umgesetzt werden, da der Vermieter, der Caritasverband, dem Projekt zum 31.12.2023 den Mietvertrag überraschend gekündigt hat“, heißt es aus dem Sozialreferat. Überraschend kam die Kündigung auch für Georg Grau – noch mehr aber für alle Mitarbeitende und Gäste.
Auf Nachfrage erklärt Caritas, dass die „Begegnungsstätte Club 29 eine wichtige Einrichtung in der Stadt München“ ist. Wegen des Zustands des Gebäudes in der Dachauer Straße 29 müsse der Caritas-Verband der Erzdiözese München-Freising aber innerhalb der nächsten drei bis fünf Jahren sanieren, insbesondere die sanitären Einrichtungen, der Kanalanschluss, Dachstuhl und Mauerwerk. Der jetzige Mietvertrag, der laut Georg Grau noch bis Dezember 2028 gültig gewesen sei, könne nicht für zehn Jahre verlängert werden. Eine Nutzung während der „zwingend notwendigen Bauphase“ sei nicht möglich. Die Absicht, dass der Mietvertrag gekündigt werden sollte, sei der Geschäftsleitung bereits im Sommer 2022 vorgelegt worden, so die Caritas.
Gegenseitige Vorwürfe: Vorschläge, „zum Teil unbeantwortet“ – Club 29 Geschäftsleiter widerspricht
Dem Club 29 seien Angebote unterbreiten worden, heißt es vonseiten der Caritas: „Wir sind seit mehr als einem Jahr im Gespräch mit Vertretern des Club 29, um für beide Seiten eine gute Lösung zu finden und haben mehrere Vorschläge unterbreitet, die zum Teil unbeantwortet blieben.“ Ein persönliches Gespräch fand am 28.02.2023 statt, um den Sachverhalt und die vertraglichen Themen des Erdgeschosses, 1. und 3. Obergeschosses zu besprechen. Zudem liege dem Club ein Mietvertrags-Entwurf ab dem 01.01.2023 seit Mai 2023 vor.
Vorwürfe, die Georg Grau dementiert – sie seien gelogen: „Es gib kein einziges konkretes Angebot, was nach dem 31.12.2023 geschehen soll. Weder ein schriftliches noch ein mündliches Angebot“, so der Geschäftsführer des Club 29. Es gebe jedoch ein Vertragsformular, ohne jeglichen Angaben, das als Gesprächsentwurf bezeichnet worden sei. Fakt ist – so Grau –, dass seine Rückfragen zu einem Gesprächstermin nichts gebracht hätten. Erst auf Hinwirken der Anwaltskanzlei, habe der Caritasverband am 27.07.2023 einen Gesprächstermin in Aussicht gestellt.
Nicht nur der alkoholfreie Treff in München fällt durch Vertragskündigung weg
In der Dachauerstraße 29 befindet sich nicht nur der alkoholfreie Treff im Erdgeschoss. „Die Vertragskündigung hat nicht nur die Schließung des Treffs zur Folge“, so Grau. Auch der stationäre Mittagstisch – dort bekommen täglich etwa zehn Menschen kostenlos essen – und die Räume für die 25 Selbsthilfegruppen, die der Club anbietet, fallen weg. In den Gruppen finden so zum Beispiel Menschen mit Suchtkrankheiten, aber auch Angehörige Unterstützung.
Iris arbeitet im Saftladen – als sogenannter „Zuverdienst“ – zusammen mit sechs bis sieben Leuten. Ein Teil der Mitarbeitenden belegt Semmeln und Brezen, ein anderer Teil macht Obstsalat. Iris ist für selbst gepresste Säfte zuständig: „Die Basis ist immer Orangensaft, mal kommt Kiwi, mal Waldfrucht oder Apfel hinzu“, sagt sie. Mit Semmeln, Salaten und Säften ausgestattet, gehen sie und die anderen Mitarbeitenden zu umliegenden Büros und verkaufen sie dort. Maximal drei bis vier Stunden dürfen sie am Tag arbeiten. Iris könnte durch die Vertragskündigung bald keinen Saft mehr verkaufen. Die gesamte Begegnungsstätte für alle anderen Besucherinnen und Besucher aus niederschwelligen Angeboten droht, zu zerbrechen.
Unterstützung gibt es aus der lokalen Politik – Rückhalt von SPD, Grüne und Linke
Grau und das Team des Club 29 sowie der Profis gGmbH setzen auf Unterstützung der lokalen Politik – und mit der können sie rechnen. Parteiübergreifend ist man sich über die Bedeutung des Treffs und der anderen Einrichtungen bewusst, was die eingereichten Beschlüsse des Sozialausschusses zeigen. Von Anne Hübner (SPD) heißt es, man wisse vom „Agieren der Caritas und wir bemühen uns derzeit, mit dieser ins Gespräch zu kommen, um die Schließung zu verhindern.“ Man sei mit Nachdruck daran dahinter, weil der Club 29 ein überragend wichtiges Angebot im Hauptbahnhofsviertel sei, schreibt Hübner auf Anfrage weiter.
Auch Clara Nitsche (Bündnis90/Die Grünen) und Stefan Jagler (Die Linke) stehen hinter dem Projekt und befinden sich in engen Austausch mit beiden Seiten. Die Mitarbeitenden und Gäste des Treffs haben zudem eine Petition ins Leben gerufen. Auf vier Blättern und einer Internetseite hätten mittlerweile etwa 260 Menschen, die Petition unterzeichnet. Die Stimmen wurden Oberbürgermeister Reiter vorgelegt, so einer der Mitarbeiter.
Alkoholsucht in Deutschland
In der Bundesrepublik beträgt der durchschnittliche Pro-Kopf-Alkoholkonsum jährlich rund zehn Liter reinen Alkohol.
Alkohol in gesundheitlich riskantem Ausmaß konsumieren hierzulande 6,7 Millionen Menschen.
Etwa 1,6 Millionen Menschen zwischen 16 bis 64 Jahren gelten als alkoholabhängig, ein Alkoholmissbrauch liegt bei etwa 1,4 Millionen Menschen vor.
Jährlich sterben mindestens 74.000 Menschen in Deutschland an den Folgen ihres Alkoholkonsums bzw. des kombinierten Konsums von Alkohol und Tabak.
Die volkswirtschaftlichen Kosten durch Alkohol betragen rund 40 Milliarden Euro pro Jahr.
Quelle: Epidemiologischer Suchtsurvey 2018, Jahrbuch Sucht 2019
„Wir haben alle ein Suchtgedächtnis. Ein Tropfen langt.“
Fassungslos über die mögliche Schließung des Treffs sind vor allem Gäste und Mitarbeitende – jene, die besonders davon betroffen wären. Iris´ Antwort auf die Frage, wie sie auf das Jahresende blicken, fällt kurz aus: „Viele wissen dann nicht, was sie machen sollen – das ist ganz einfach erklärt.“ Der Treff gebe ihr Rückhalte, schaffe Struktur. „Ich bin trockene Alkoholikerin, ich habe gesoffen, dass sich die Balken biegen. Und mir gibt das hier Stabilität, weil ich was zu tun habe, mit anderen Leuten zusammen bin. Sonst würde ich nur zu Hause sitzen und von außen schauen, wie das Wetter wird“, sagt sie.
In der Dachauer Straße 29 finden Menschen wie Iris eine Beschäftigung, können arbeiten. Anderswo wäre das so nicht möglich: „Wir können nicht einfach als Spüler in die Gastronomie – das wäre der Untergang für uns. Wir haben alle ein Suchtgedächtnis. Ein Tropfen langt.“ Die Verzweiflung schwingt in ihrer Stimme mit: „Es gibt für jeden Mist etwas, aber für Alkis …“, sie stockt. Der Satz bleibt unausgesprochen.
„Ein sicherer Hafen in einem Häusermeer aus Alkohol“ – Treff in München bietet Betroffenen Hilfe
Walter Schauer lebt im „Männertreff“, so nennt er seinen Schlafplatz – dem Haus an der Gabelsbergerstraße vom Katholischen Männerfürsorgeverein. Bald vier Jahre und sieben Monate ist er trocken, den Club 29 hat er 2019 kennengelernt. Die Wohnung („Männertreff“) sei sein Schlafort, „Hier ist mein Wohnzimmer“, sagt der 55-Jährige und zeigt Richtung Leseecke. Was ihm der Treffpunkt bedeute? – „Der alkoholfreie Treff ist ein sicherer Hafen in einem Häusermeer aus Alkohol.“
Bernd, der im Service als Minijob arbeitet, war sehr überrascht, als er hörte, dass der Mietvertrag gekündigt wurde. Der 55-Jährige sagt über die Dachauer Straße 29: „Es ist eine Tradition, die verloren geht. Die Adresse des Club 29 hat auch symbolischen Wert, der dann jetzt wegbricht. Das kommt erschwerend hinzu.“
Nächster Gesprächstermin – Club 29: „Hinhaltetechnik“
Am 25. September findet voraussichtlich ein neuer Termin statt, an dem sich beide Parteien treffen. Vorgeschlagen wurde der Termin von der Caritas, nachdem lange Zeit nichts passiert sei, so Georg Grau. Die Themen dabei sollen unter anderem die „Bedarfsermittlung der Räumlichkeiten“, „die Rückgabe der Räumlichkeiten“ sein. Der Club 29 sieht in dem Treffen „zumindest Hinhaltetechnik, weil gerade damit das Ende der Profis gGmbH i.L zwangsläufig herbeigeführt wird.“
Auch das Sozialreferat, das maßgeblich an der Konzeption des Treffs beteiligt war, weiß um den Termin. „Wir hoffen hier auf eine konstruktive Lösung. Aus Sicht des Sozialreferats wird der Erhalt der Gaststätte befürwortet“, so Edith Petry, Pressesprecherin des Referats.
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