Ich gehe seit 40 Jahren auf die Wiesn – früher war NICHT alles schöner

Viele Münchner behaupten: Früher war die Wiesn schöner. Nämlich billiger, gemütlicher, sicherer. Robert geht seit 40 Jahren hin. In seinem Gastbeitrag hat er eine Botschaft an alle Nostalgiker und Touristen.
Früher war die Wiesn einfach schöner. Es war sicherer, billiger, nicht so voll. Oder hängt das nur von der Betrachtung ab?
War es wirklich sicherer und friedlicher? Die Fäuste und Krüge sind früher auch unzählige Male geflogen und das Attentat von 1980 darf auch nicht vergessen werden.
War es billiger? Ja, wenn aber in den 80ern kein Golf umgerechnet 70.000 D-Mark gekostet hat und für keine Haushälfte am Stadtrand fast zwei Millionen D-Mark gezahlt wurden, scheint mir alles teurer geworden zu sein.
War es früher weniger voll? Ich kann mich nicht erinnern, eine gemütlichere Wiesn als die im vergangenen Jahr erlebt zu haben. Ich gehe seit meiner frühesten Kindheit regelmäßig auf die Wiesn. Im Schnitt so zehn bis zwölf Mal pro Jahr. Ich kann mich an kein Jahr in den 80ern oder 90ern erinnern, an dem annähernd so viele Plätze wie 2015 oder 2016 frei waren. Vor allem unter der Woche.
Freitage, Samstage und Feiertage waren schon immer überfüllt.
Unsere Freunde aus Italien strömen seit Urzeiten auf die Wiesn. Und der amerikanische Ansturm der 80er wurde durch viele kleine Gruppen aus anderer Herren Länder langsam ersetzt. Ich glaube übrigens nicht daran, dass das Verhältnis von Touristen und Einheimischen sich stark verändert hat. Man sieht und hört den Einheimischen nur seltener an, dass er aus München oder Bayern stammt. So mancher Neuhausener könnte dialektisch auch durchaus aus Hannover stammen.
Was ist aus meiner Sicht schlechter geworden? Jeden Wochenend-Tag stürmen abertausende Event-Fans (durchaus auch aus Bayern) auf die Theresienwiese und erwarten von diesem einen Tag einfach alles! Man muss den Looping gefahren sein und vor allem muss man einen kompletten Tisch in einem der angesagten Zelte haben.
Leider geht mit diesem „Erfolgsdruck“ auch häufig eine „Druckbetankung“ einher. Das „Ex-en“ einer Mass oder gar das „Vorglühen“ auf der Anreise kann ich selbst nicht verstehen. Wobei ich auch hier den Eindruck hatte, dass die Hochzeit des „Komasaufens“ langsam abebbt. Ich würde es mir zumindest wünschen. Ich sehe den Muss-Rausch aber auch nicht unbedingt als Privileg des Oktoberfestes an. Malle, Après-Ski, Fasching etc. – sinnloses Besaufen ist überall en vogue.
Leider findet dieser Event-Tourismus auch häufig in „original“ bayerischen Trachten statt. Die teilweise peinliche Verkleidung vieler Einheimischer und Touristen ist seit dem fürchterlichen Landhausboom der 90er-Jahre leider nicht besser geworden. Aber sind wir doch mal ehrlich? In Alltagskleidern, wie es in den 80ern und vorher üblich war, haben auch nicht alle für München als Modehauptstadt geworben. Die Motto-Shirts, Wildschweinmützen und Seppl-Hüte sind doch auch schon immer genauso schwer zu ertragen gewesen, wie es die pakistanische Rindslederhose oder das ultrakurze, Candy-pinke Polyester-Kleidchen heute sind, oder? Schön ist das für ein Traditionalisten-Auge sicher nicht, aber solange die Leute fröhlich und friedlich sind, gibt es sicherlich Schlimmeres.
Aber für solche Zwangstrinker und Trachtenfehlinterpretierer ist mein Plädoyer für die Wiesn auch nicht in erster Linie gedacht. Sondern für Menschen, die das Oktoberfest einmal geliebt haben, und ihre Leidenschaft in der Kommerzialisierung der letzen Jahre leider verloren haben. Die Schönheit des Oktoberfestes steckt nicht in der Hektik des Wochenendbesuches. Die wahre Wiesn sieht man auch nicht in billigen Reportagen im TV. Diese Berichte sind sicherlich nicht weltfremd, aber sie spiegeln doch nur einen sehr kleinen Ausschnitt dieses Volksfestes wider.
Leute, nehmt euch Zeit und lernt die wirkliche Wiesn wieder kennen.
Es geht an einem beliebigen Wochentag mittags los. Ein Platz zu einem wirklich guten Essen ist in allen Zelten problemlos zu ergattern. Das ist es doch, wonach viele suchen? Die Preise sind oft günstiger und der allgemeine Volksfestcharakter viel präsenter. Am Nachmittag ist es in den Biergärten wunderschön. Die Bedienungen sind viel entspannter und man kann auch durchaus mal ein Gespräch wagen. Das hat auch den Vorteil, dass sich so manche Bedienung an einen erinnert und man beim nächsten Besuch vielleicht auch am Abend mal ein freies Plätzchen ergattern kann. Ich habe die Erfahrung unzählige Male gemacht. Abends dann die Lichter genießen oder sich in eines der Zelte wagen. Mit ein paar netten Worten und ein bisschen Geduld kommt man fast immer unter.
Wenn man dann noch die restlichen Attraktionen des größten und schönsten Volksfestes der Welt erleben möchte, dann steht dem nichts im Wege. Leider werden die Kindheitserinnerungen auf der Oiden Wiesn, der Schichtl, das Teufelsrad, Tobbogan und die Krinoline häufig links liegen gelassen. Dabei sind genau das die Gründe, warum viele die Wiesn früher schöner fanden. Vernachlässigt werden leider auch die kleinen Zelte und Buden. Oder die Spezialitäten-Restaurants, Weinstuben, Cafés – hier gibt es häufig Plätze, wenn die großen Zelte bereits seit Stunden dicht sind.
All die negativen und häufig kritisierten Dinge kann man heute problemlos umgehen.
Schraubt eure Erwartungen zurück - dann werden sie übertroffen!
Ich freue mich schon jetzt auf schöne und hoffentlich friedliche 18 Tage. Jeden Tag möchte ich nicht auf die Wiesn – aber 18 Mal im Jahr ist schon in Ordnung.
Diesen Gastbeitrag schrieb tz.de-Leser Robert. Er ist 44 Jahre alt und hat seit seiner frühesten Jugend den Geburtstag auf der Wiesn gefeiert. Er wohnt im westlichen Münchner Umland. Von Beruf ist er Logistiker; er hat sogar vier Jahre auf dem Oktoberfest gearbeitet.
tz.de hatte seine Leser Anfang August gefragt, wieso so viele von ihnen der Meinung sind, die Wiesn sei früher schöner gewesen. tz.de hatte die Argumente der Wiesn-Nostalgiker gesammelt – hier gelangen Sie zur Liste.
Umfrage: War die Wiesn früher wirklich schöner? Wie denken Sie darüber?
Lesen Sie weitere Gastbeiträge zum Thema Oktoberfest:
- Wirt vom trachtenfreien Café Kosmos: „Ich schäme mich für die Wiesn.“
- Wiesn-Bedienung Julia: Darum werden wir so grantig beim Thema Geld.
- Wiesn-Bedienung Julia: So bereite ich mich auf die Strapazen vor.
- tz.de-Autorin Vanessa Fonth: Liebe Wiesn, dies ist mein Abschiedsbrief.
- Kristina Gottlöber von der Aktion „Sichere Wiesn für Mädchen und Frauen“: Keine Frau im Dirndl ist schuld daran, begrapscht zu werden!