„Geistersoldaten“ für Kabul? Ex-Minister stellt Afghanistan-Desaster in völlig neues Licht

Die Taliban eroberten im August ganz Afghanistan. Ein Ex-Minister enthüllte nun: Die afghanische Armee, die den Vormarsch stoppen sollte, war viel kleiner als behauptet.
London/München - Die afghanische Armee verfügte nach Angaben eines ehemaligen Ministers des Landes vor der Machtübernahme der Taliban* nur über einen Bruchteil der angeblich unter Waffen stehenden Soldaten.
Nach der Entscheidung zum Rückzug aller US* und NATO*-Truppen aus Afghanistan* eroberten die Taliban das Land in nur einem Monat. Die afghanische Armee, die zwei Jahrzehnte lang in erster Linie von den USA, aber auch weiteren NATO-Truppen ausgebildet und ausgerüstet wurde, hätte dies eigentlich verhindern sollen.
Afghanischer Ex-Minister: Korrupte Praktiken verantwortlich für raschen Zusammenbruch
Doch sie kollabierte an allen Fronten, so auch in der Hauptstadt Kabul. Beinahe ohne Zusammenstöße nahmen Taliban-Kräfte nach und nach alle Provinzen und schließlich die Hauptstadt Kabul ein. Im Präsidentenpalast posierten sie vor den Kameras.
Auch die Provinz Pandschir, die zuvor nie von den Taliban kontrolliert wurde, fiel nun in deren Hände. Der dort organisierte Widerstand konnte den Taliban-Kräften ebenfalls nicht standhalten.
Doch wie kam es dazu, dass die aus rund 300.000 Soldaten bestehende afghanische Armee mit einer atemberauenden Geschwindigkeit zusammenbrach und das Feld beinahe kampflos den Taliban überließ? Der afghanische Ex-Finanzminister Khalid Payenda hat die Antwort darauf. Im Interview mit der BBC enthüllte er neue Fakten zum Afghanistan-Desaster und machte „korrupte Praktiken“ von Beamten für den Zerfall verantwortlich.
Afghanistans Ex-Finanzminister: Afghanische Armee war nie so groß wie behauptet - „Geistersoldaten“
Laut Payenda entsprechen damals ausgestellte Dokumente über die zahlenmäßige Überlegenheit afghanischer Sicherheitskräfte gegen die Taliban nicht der Realität. Demnach habe es allenfalls ein Sechstel der angeblich 300.000 Soldaten und Polizisten gegeben, sagte Ex-Finanzminister Khalid Payenda der BBC.
Grund dafür seien korrupte Praktiken von Offizieren gewesen, die für die „Geistersoldaten“ Mittel von der Zentralregierung in Kabul erhalten hätten: „Man fragte den Leiter in dieser Region, wie viele Menschen (Soldaten) man hat und basierend darauf berechnete man dann die Löhne.“ Dabei sei die Zahl der Soldaten immer übertrieben dargestellt worden, um mehr Geld zu erhalten, so Payenda.
Zudem seien geflohene und verstorbene Soldaten nicht aus den Dokumenten gelöscht worden. Die Kommandeure würden die Bankkarten dieser Soldaten behalten und ihre Gehälter an sich nehmen, behauptete der Ex-Finanzminister. Auch dies hat offenbar dazu geführt, dass die Zahl der afghanischen Soldaten weit höher dargestellt wurde.
Afghanistans ehemaliger Präsident Ghani war nicht korrupt, sagt Ex-Minister
Den ehemaligen Präsidenten Ashraf Ghani verteidigte er jedoch gegen Korruptionsvorwürfe. Er denke nicht, dass sich Ghani „finanziell korrupt“ verhalten habe, so der Ex-Minister.
Vorwürfe zu Korruption innerhalb des ehemalig von ihm geleiteten Finanzministeriums wies er zu einem großen Teil zurück. An der Übertreibung von Soldatenzahlen habe das Ministerium nicht teilgehabt: „Zu einem bestimmten Ausmaß bin ich da der selben Meinung, doch in dieser Sache absolut nicht.“ (bb mit Material von dpa) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA