Alt-OB Ude im Interview: Wie Schulz die SPD verzaubert

München - Der SPD-Vorstand hat Martin Schulz als Kanzlerkandidaten der Partei nominiert. Die tz hat mit Alt-OB Christian Ude über die neue SPD-Hoffnung gesprochen.
Jetzt ist es offiziell: Der SPD-Vorstand hat Martin Schulz als Kanzlerkandidaten der Partei nominiert. Mit einer kämpferischen Rede im Willy-Brandt-Haus hat der Kandidat eine erste Duftmarke gesetzt. Dabei war eine Aufbruchstimmung zu spüren, die man den Genossen kaum noch zugetraut hätte. Schulz betonte bei seinem Auftritt nicht nur seine Erfahrung in Europa, sondern auch seine Zeit als Bürgermeister seiner Heimatstadt Würselen: „Ich habe kein Abitur, habe nie studiert und komme aus der Provinz – das sehe ich nicht als Makel, weil ich diese Zuschreibungen mit der Mehrheit der Menschen im Lande teile.“ Die tz hat mit Alt-OB Christian Ude über die neue SPD-Hoffnung gesprochen:
Martin Schulz löst in der SPD eine lange nicht gekannte Begeisterung aus …
Christian Ude (SPD), Münchens Alt-OB: Wo ich geh’ und steh’, spüre ich eine enorme Aufbruchstimmung – ob bei einem Treffen mit 50 Wahlhelfern, die ich eingeladen hatte, oder bei zufälligen Begegnungen auf der Straße. Plötzlich wird klar: Es gibt endlich eine Antwort auf den rechtspopulistischen Vormarsch – und das ist ein sozialdemokratisches Selbstbewusstsein und ein breites Bündnis in der Zivilgesellschaft.
Wie haben Sie Martin Schulz erlebt?
Ude: Ich bin ihm sehr dankbar für seine massive Unterstützung bei meinem Wahlkampf vor drei Jahren. Er konnte schon damals die bayerischen Bierzelte rocken, so wie gestern das Willy-Brandt-Haus. Mich verbindet aber noch eine ganz besondere Erinnerung mit Martin Schulz. Ich habe mit ihm gemeinsam Wahlkampf bei den OB-Wahlen in Mailand gemacht. Damals ging es darum, das Ende der Ära Berlusconi einzuläuten. Dort gab es eine internationale Pressekonferenz, bei der er auf Englisch, Italienisch und Französisch ausgefragt wurde und wirklich in jeder dieser Sprachen souverän und brillant formuliert antworten konnte. Schulz ist also ein wirklicher Weltmann mit beeindruckender Bildung.
Dabei hatten ihm Kritiker vorgeworfen, dass er kein Abitur gemacht hat …
Ude: Dieser Vorwurf ist nur noch lächerlich. Ich dachte, wir hätten diesen Akademikerdünkel längst überwunden. Er ist ein extrem gebildeter und belesener Mann.
Schulz kommt nicht aus der Bundespolitik – ist das für ihn in den kommenden Monaten eher Vor- oder Nachteil?
Ude: Eher ein Vorteil. Nach dem Akademikerdünkel wird er zwar den Bundesdünkel erleben. Die Bevölkerung wird es aber zu schätzen wissen, dass da einer mit neuem Schwung und nicht mit alten Bedenken antritt.
Schulz betont auch seine Vergangenheit als Kommunalpolitiker und Bürgermeister von Würselen.
Ude: Das war natürlich Balsam auf meine Seele. Ich habe es als Städtetagspräsident häufig ähnlich formuliert: Kommunalpolitik ist nicht die Nachhilfeschule für die große Politik, sondern der eigentliche Ernstfall des Lebens. Hier ist man dem Souverän der Demokratie, dem Volk, am nächsten und kann die breiteste Erfahrung sammeln – nicht nur im politischen Ideenhimmel, sondern in der Praxis. Wie Gesetze funktionieren lässt sich am besten in der Kommunalpolitik besichtigen – und man hat tagtäglich mit allen Themen der Bürgerschaft zu tun und nicht nur mit gerade anstehenden Gesetzesvorhaben. Es ist die breiteste Ausbildung, die man haben kann.
Kann dieser Stimmungsaufschwung denn bis September tragen?
Ude: Das hängt jetzt ausschließlich von der SPD-Anhängerschaft an. In der Medienwelt werden sich einige auf ihn einschießen, wie zuvor auch auf Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück und zuletzt Sigmar Gabriel. Wenn aber die Mitglieder der SPD an der heutigen Einmütigkeit festhalten, wird ihn diese Begeisterung bis zum Wahltermin tragen und nicht vorher zerbröseln.
Kann die Begeisterung aus der Partei dann auf die Wähler überschwappen?
Ude: In der Politik gilt: Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg und nichts entmutigender als der Misserfolg. Schulz hat in Europa gezeigt, dass er ein international bedeutsames Amt mit Leben füllen kann. Jetzt kann er der Sozialdemokratie wieder Selbstbewusstsein und Zuversicht geben. Dass er Politik kann, ist europaweit bekannt.
Setzt Schulz thematisch auf das richtige Pferd?
Ude: Unbedingt. Er hat nicht nur die soziale Gerechtigkeit betont, sondern auch den Zusammenhalt der Gesellschaft, der politisch begründet sein muss. Es ging also längst nicht nur um Umverteilung, sondern um Zusammenhalt, Toleranz und um internationale Zusammenarbeit. Also all das, was uns gegenwärtig abgeht.
Die Suche nach dem Wahlkampfthema
Der frischgebackene Kanzlerkandidat Martin Schulz reißt seine Partei mit – jetzt muss der Hoffnungsträger seine Themenschwerpunkte für den kommenden Wahlkampf formulieren. In seiner Rede vor den Genossen im Willy-Brandt-Haus und später am Abend bei seinem Auftritt im ARD-Talk Anne Will sind erste Leitlinien seiner Politik deutlich geworden.
Im Zentrum seines Wahlkampfs wird die soziale Gerechtigkeit stehen. „Mir ist wichtig, dass die hart arbeitenden Menschen in diesem Land, die sich an die Regeln halten, die sich um ihre Kinder und oft auch um ihre Eltern kümmern, die manchmal trotz zweier Einkommen nur so gerade über die Runden kommen, dass wir diese Menschen und ihre Sorgen in den Mittelpunkt unserer Politik stellen“, sagte Schulz. Außerdem sei es nicht gerecht, dass ein Bäcker seine Steuern zahlen müsse, aber ein globaler Kaffeekonzern sein Geld in Steueroasen parke.
Rechtspopulisten griff Schulz scharf an. Es sei „schändlich und abstoßend, dass Rattenfänger versuchen, auf dem Rücken von Flüchtlingen politisches Kapital zu schlagen“. Die AfD nannte Schulz eine „Schande für die Bundesrepublik“.
Marc Kniepkamp