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Analyse: Ist Deutschland noch sozial und gerecht?

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SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz. © dpa

Berlin - Der ARD-Deutschlandtrend belegt: die Umfragewerte der SPD steigen. Offensichtlich spricht Martin Schulz mit seiner Gerechtigkeitskampagne viele Bürger an. Ist das Thema klug gewählt oder eigentlich ein alter Hut? Wir analysieren, wie es wirklich um die Gerechtigkeit in Deutschland steht.

Einkommen: Wirtschaftlich steht Deutschland blendend da: 2016 hatten über 43,5 Millionen Menschen in Deutschland einen Job, so viele wie nie zuvor. Kein Land der Welt war 2016 exportstärker – nicht einmal China. Löhne und Gehälter zogen kräftig an und Finanzminister Wolfgang Schäuble weiß schon gar nicht mehr wohin mit seinem Milliardenüberschuss... Und der aktuelle Armutsbericht der Bundesregierung zeigt, dass es den Bundesbürgern – im Schnitt – so gut wie noch nie geht. Und trotzdem ist vielen Menschen nicht zum Jubeln zumute. Viele Minijobber, Leiharbeiter, Rentner und Alleinerziehende haben das Gefühl, dass der Boom an ihnen vorbeigeht. Und in großen Teilen der Mittelschicht geht die Angst vor dem sozialen Abstieg um. Zu Recht?

Die Einkommen steigen, aber nicht für alle

Fakt ist, die Einkommen steigen, allerdings nicht für alle, wie Dr. Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin in seiner aktuellen Studie nachweist. Wenn’s um die verfügbaren Einkommen geht, dann geht die viel zitierte Schere in Deutschland tatsächlich immer weiter auseinander. Die einkommensstärksten zehn Prozent der Bevölkerung hatten zwischen 1991 und 2014 Einkommenszuwächse von satten 27 Prozent, die mittleren Einkommensgruppen dürften sich immer noch über ein Plus von neun Prozent freuen. 

Aber für die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung fiel nichts ab, im Gegenteil, ihr Einkommen schrumpfte sogar. Laut Grabka lag das Minus in einer Größenordnung von acht Prozent! Die Gründe dafür sind laut DIW unter anderem: die Ausweitung des Niedriglohnsektors, aber auch strukturelle Veränderungen wie die zunehmende Bedeutung des Dienstleistungssektors oder die geringe Nachfrage nach gering qualifizierten Beschäftigten. Grabka geht davon aus, dass sich an der Situation erst einmal wenig ändern wird. Ein Indiz dafür ist für ihn, dass zuletzt auch das Armutsrisiko in Deutschland gestiegen ist von 14 (2005) auf 16 Prozent. Das betrifft die Bürger, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens ausgeben können. Das sind aktuell 1050 Euro für einen Einpersonenhaushalt.

Vermögen in Deutschland ist ungleich verteilt

Vermögen: Deutschland ist reich, aber die Vermögen sind sehr ungleich verteilt. Das belegt eine Studie, die die Bundesbank 2016 veröffentlicht hat. Teilt man die rund 40 Millionen Haushalte in eine reiche und eine arme Hälfte, dann besitzt die Gruppe in der Mitte etwas mehr als 60.000 Euro. Doch das durchschnittliche Vermögen ist fast viermal so hoch (zu den reichsten zehn Prozent gehört ein Haushalt ab 468.000 Euro). Für Wissenschaftler ist der große Unterschied zwischen dem Durchschnitt und dem, was ein mittlerer Haushalt tatsächlich auf der hohen Kante hat, ein Indiz für eine ungleiche Verteilung. Deutlich wird die Ungleichheit aber auch, wenn man eine Studie zu den OECD-Staaten heranzieht: Demnach besitzen die „ärmsten“ 60 Prozent der Bundesbürger nur sechs Prozent des gesamten Vermögens in Deutschland, den reichsten zehn Prozent gehören fast 60 Prozent. Interessant ist auch der internationale Vergleich. Nach Angaben der Europäischen Zentralbank liegt beispielsweise das mittlere Vermögen der Griechen über dem der Deutschen, das mittlere Vermögen von Zyprioten oder Italienern liegt sogar gleich dreimal so hoch. Für die Experten der EZB liegt das unter anderem an der Art der Geldanlage. Deutsche kaufen lieber Lebensversicherungen als Aktien oder Immobilien. Denn erstaunlicherweise wohnen bis zu 80 Prozent der Italiener und Spanier im eigenen Haus – doppelt so viele wie in Deutschland.

Ernüchterndes Fazit bei der Chancengleichheit

Bildung: Wenn’s um die Chancengleichheit in Deutschland geht, dann fällt das Fazit ernüchternd aus: „Wer aus wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen stammt, vielleicht noch einen Migrationshintergrund mitbringt und nicht auf das akademische Bildungserbe seiner Eltern und Großeltern zurückgreifen kann, hat ungleich schlechtere Chancen auf einen höheren Bildungsabschluss“, heißt es im Chancen-Spiegel, einer Studie der Bertelsmann-Stiftung. „Neuntklässler aus höheren Sozialschichten haben in Mathematik bis zu zwei Jahre Vorsprung vor ihren Klassenkameraden aus bildungsferneren Familien.“ 

Immerhin: Im Vergleich der 35 OECD-Staaten gibt es auch Positives: 2015 waren in Deutschland nur 8,6 Prozent der 15- bis 29-Jährigen nicht in Bildung, Ausbildung oder Beschäftigung (OECD-Mittel 14,7%). Allerdings wird kritisiert, dass Deutschland mit 4,2% seines Bruttosozialproduktes zu wenig für Bildung ausgibt (OECD-Mittel 4,8%). Wegen der gestiegenen Studentenzahlen sanken etwa die Ausgaben pro Studierendem zuletzt in einem vergleichbaren Umfang wie in Spanien während der Finanzkrise.

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