„Überwachungsstaat“ für 15-Kilometer-Regel? CSU-Politiker erntet Entsetzen für Vorstoß - Söders Regierung reagiert

Gerade erst ist der 15-Kilometer-Radius Realität geworden, da kocht der Streit über. Virologen zweifeln an der Regel - doch aus der CSU kommt ein Vorschlag, der Kritiker alarmiert.
- Seit Montag (11. Januar) gelten in Bayern neue Corona-Regeln - darunter auch der 15-Kilometer-Bewegungsradius für Bewohner von Hotspots.
- Die Maßnahme gegen Ausflugs-Chaos stößt auch bei Virologen auf große Skepsis. Ein CSU-Politiker widerspricht Innenminister Herrmann - und fordert scharfe Kontrollen.
- Gleich mehrere Parteien fürchten angesichts des Vorstoßes einen Schritt Richtung „Überwachungsstaat“ - schnell richtet sich der Blick auf Ministerpräsident Markus Söder.
Update vom 11. Januar, 17.25 Uhr: Wie sehr darf die Politik in die Privatsphäre und informationelle Selbstbestimmung der Bürger eingreifen, um die Corona-Pandemie einzudämmen? Eine brisante Frage in diesen Tagen - die ziemlich unerwartet am Montag in Bayern virulent wurde. Der CSU-Politiker und Gemeindetags-Präsident Uwe Brandl hat scharfe Kontrollen der 15-Kilometer-Regel eingefordert. Das Mittel seiner Wahl: Standort-Daten der Mobiltelefone.
Die Regierung von Ministerpräsident Markus Söder (ebenfalls CSU) hat wenige Stunden nach Start der Debatte reagiert. Man werde die Einhaltung der frisch in Kraft getretenen Regel nicht über Handydaten überwachen, erklärte das Innenministerium dem Bayerischen Rundfunk (BR). Als Grund nannte ein Sprecher „durchgreifende rechtliche Bedenken“. Ohnehin sei die Idee ungeeignet - schließlich gebe es für die Bürger auch triftige Gründe, den 15-km-Radius zu verlassen.
Brandl verteidigte dessen ungeachtet seinen Vorstoß. Es sei ihm bewusst, dass es für eine Umsetzung der Handyüberwachung „im Vorlauf ein rechtsstaatliches Verfahren“ brauche, ließ sich der Politiker zitieren. Angesichts erschöpfter Personalkapazitäten im Gesundheitsbereich und bei der Polizei müsse es „in einer Demokratie erlaubt sein“, über derartige Ideen zu debattieren.
Zweifel an 15-Kilometer-Regel - doch CSU-Politiker will scharfe Kontrollen: Entsetzen über „Überwachungsstaat“
Erstmeldung vom 11. Januar 2020: München - Seit Montag (11. Januar) ist in Bayern ein Schwung neuer Corona-Regeln in Kraft. Der vielleicht plakativste neue Einschnitt ist auch der umstrittenste: Der 15-Kilometer-Bewegungsradius um dem Wohnort - sofern dieser ein Hotspot ist. Die Maßnahme bedeutet unter anderem einen Ausflugs-Stopp, den manche bedauern werden, einige Regionen aber auch begrüßen dürften*. Erst am Wochenende gab es eindrückliche Belege für ein Problem mit „Hotspots“ in der freien Natur*.
Offen ist aber auch, wie der Plan überhaupt kontrolliert werden soll. Markus Söders Staatsregierung selbst zeigt sich optimistisch, erntet aber Widerspruch aus eigenen Reihen. Aus der CSU kommt auch schon ein Lösungsvorschlag. Doch genau der schürt noch größere Sorgen - Kritiker sehen Gefahren für Bürgerrechte.
Corona-Regeln in Bayern: Herrmann glaubt an Umsetzbarkeit des 15-Kilometer-Radius - Parteifreund widerspricht
Noch am Vorabend der Regel-Einführung hatte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) bei der Frage nach Einhaltung des Bewegungsradius vor allem auf Kontrollen anhand von Autokennzeichen verwiesen. „Die Polizei wird das kontrollieren“, sagte Herrmann in einem Talk der Bild-Zeitung - und verwies dann schnell darauf, dass immer noch jeder Bewohner eines Hotspots 700 Quadratkilometer zur freien Bewegung habe. Von allzu schweren Grundrechtseingriffen müsse man angesichts dessen nicht sprechen.
Corona in Bayern:
Wo die 15-Kilometer-Regel zum Start des neuen Maßnahmenbündels in Bayern greift, erfahren Sie in diesem Artikel.
Über die aktuellen Entwicklungen rund um die Corona-Pandemie in Bayern halten wir Sie in unserem News-Ticker auf dem Laufenden.
Doch genau solche Sorgen vor überharten Eingriffen kamen am Montag wieder auf. Denn die Kontrolle der neuen Regel beschäftigt auch den Bayerischen Gemeindetag. Dessen Präsident Uwe Brandl (CSU) widersprach dem Innenminister. „Ich kann die Intention nachvollziehen. Was ich allerdings nicht nachvollziehen kann ist, wie man das Ganze auch vernünftig kontrollieren möchte“, sagte er am Montag im Radiosender Bayern2. „Ich glaube, dass jede Regelung nur so gut ist, wie sie exekutiert und überwacht werden kann“, fügte der Bürgermeister der niederbayerischen Stadt Abensberg hinzu.
Corona in Bayern: CSU-Mann will neue Regel mit Handydaten überprüfen - Opposition warnt vor „Überwachungsstaat“
Brandl hatte auch einen Lösungsvorschlag parat - der allerdings binnen kürzester Zeit auf heftige Kritik stieß. „Wir könnten heute Bewegungsprofile aus den Handys auslesen und auf diese Weise sehr treffsicher feststellen, wo sich die Menschen aufhalten“, sagte der CSU-Politiker: „Wir müssen uns halt jetzt entscheiden, was wichtiger ist, der Gesundheitsschutz oder der Datenschutz.“
„Was für brandgefährliche Überwachungsphantasien! Sie zerstören das Vertrauen in die Demokratie und liefern Verschwörungsanhängern Futter“, zeigte sich etwa die bayerische Bundestagsabgeordnete Margarete Bause (Grüne) in einem Tweet entsetzt. Sie lenkte den Blick auf den ohnehin zuletzt teils scharf kritisierten Ministerpräsident Markus Söder* (CSU) - von ihm erwarte sie nun ein entschiedenes und schnelles „Nein“.
Martin Hagen, FDP-Fraktionschef im Landtag, kündigte bereits Widerstand der Liberalen gegen die Idee an: „Dieser Vorschlag eines CSU-Politikers ist ein Tabubruch. Deutschland darf kein Überwachungsstaat werden“, twitterte er. Vor dem Überwachungsstaat warnte auch SPD-Landeschefin Natascha Kohnen - sie schrieb von einem „No-Go“.
Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber sprach sich schnell und deutlich gegen eine Überwachung des 15-Kilometer-Radius auf technischem Wege aus. Die Akzeptanz der Corona-Warn-App „würde schlagartig sinken und man würde Ressourcen und Zeit vergeuden“, sagte Kelber der Augsburger Allgemeinen. Er widersprach auch in technischer Hinsicht Brandls Einschätzung. Eine Funkzellenabfrage an sich zeige zudem generell noch nicht einmal verlässlich, in welcher Straße eine Person gewesen sei, warnte er.
15-Kilometer-Regel in Bayern: Experten zweifeln an Sinnhaftigkeit - Virologin: „Infektiologisch zunächst kein Vorteil“
Weitere Brisanz gewinnt die Debatte zudem durch Grundsatzkritik an der 15-Kilometer-Regel. SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach, bekannt für harte Forderungen zur Pandemie-Bewältigung, zeigte sich bei der Bild wenig überzeugt von der Maßnahme. Es handle sich sicherlich nicht um „den Besten der Beschlüsse“. Die Öffentlichkeit suche sich den „schwächsten Punkt der Beschlüsse aus“ und hacke darauf herum, betonte Lauterbach - nach einem Plädoyer für eine Durchsetzung der Regel mit allen Mitteln klang das nicht.
Auch bekannte Virologen zweifeln. „Eine 15-Kilometer-Grenze bringt infektiologisch gesehen zunächst keinen Vorteil“, sagte Ulrike Protzer, Direktorin des Instituts für Virologie am Helmholtz Zentrum München. „Natürlich erschrecken einen die Bilder von überfüllten Ausflugszielen zunächst“, erklärte sie. Allerdings berge die Regel die Gefahr überfüllter innenstädtischer Parks. „Und da trifft man dann auch schnell einmal Menschen, die man kennt, und vergisst dabei vielleicht die notwendigen Abstandsregeln.“
Ein erstes Beispiel dafür lieferte am Sonntag ausgerechnet die Landeshauptstadt München: Am Nymphenburger Kanal musste bei schönstem Winterwetter die Polizei eingreifen.