Experte: Was die Brasilien-Proteste bedeuten

Rio de Janeiro - Was bedeutet der Protest in Brasilien? Die tz hat mit Markus Fraundorfer vom Giga-Institut für Lateinamerika-Studien gesprochen, der sich derzeit in Rio de Janeiro aufhält.
Brasilien im Ausnahmezustand, ausgerechnet während eines Fußball-Turniers, der Generalprobe für die WM 2014. Allein in Rio versammelten sich erneut 300 000 Menschen, im ganzen Land waren es mehr als eine Millionen. Die Polizei lieferte sich Straßenschlachten mit einigen Demonstranten, in Ribeirão Preto fuhr ein Auto in eine Gruppe Menschen, wobei ein 18-Jähriger getötet wurde. Die tz hat mit Markus Fraundorfer vom Giga-Institut für Lateinamerika-Studien gesprochen, der sich derzeit in Rio de Janeiro aufhält.
Was bedeutet dieser Protest?
Markus Fraundorfer: Er ist eine historische Zäsur in der noch jungen demokratischen Geschichte Brasiliens. Es wird im ganzen Land demonstriert, in über 120 Städten gehen die Menschen auf die Straße. Und dabei wird der Protest nicht von Parteien oder Organisationen organisiert wird. Es ist ein Protest des Volkes für das Volk.
Brasilien gilt als Boomland, was treibt die Leute auf die Straße?
Fraundorfer: Es geht nicht so sehr um konkrete Forderungen, sondern um die vielen Defizite im Land. Brasilien hat mit einer gigantischen Korruption und Vetternwirtschaft zu kämpfen – viele Politiker empfinden das als Kavaliersdelikt. Ein entscheidender Punkt ist das schlechte Gesundheits- und Bildungssystem.
Wie macht sich das bemerkbar?
Fraundorfer: Die Brasilianer zahlen einerseits für ein Entwicklungsland unglaublich hohe Steuern, gleichzeitig bekommen sie kaum etwas dafür. Das öffentliche Gesundheitssystem ist miserabel, das Bildungssystem ebenfalls. Wer eine gute medizinische Behandlung oder eine gute Schule haben will, der braucht sehr viel Geld.
Nun ist im fußballverrückten Brasilien ausgerechnet der Fußball Hintergrund für diese Proteste. Warum das?
Fraundorfer: Brasilien ist nur Fußball, das ist ein Klischee. Den Brasilianern ist eine gute Infrastruktur wichtiger als moderne Stadien oder eine große Fußball-Show. Es gibt ja sogar Proteste, wenn die brasilianische Nationalmannschaft spielt und das sogar im Stadion. Fifa-Chef Sepp Blatter ist beim Eröffnungsspiel ausgepfiffen worden und auch der brasilianische Verband ist bekannt für seine Korruption.
WM 2014: 18-Jähriger bei Protesten in Brasilien getötet
Nun hat die Bus-Fahrpreiserhöhung das Fass zum Überlaufen gebracht…
Fraundorfer: Die Bus- und Bahnpreise hätten besonders die jungen Menschen getroffen, von denen der Protest ausging. Die Qualität des öffentlichen Verkehrssystems ist äußerst miserabel, deshalb gab es kein Verständnis für diese Erhöhungen.
Wie ist die finanzielle Lage der durchschnittlichen Brasilianer?
Fraundorfer: Insbesondere mit der Regierung Lulas ist eine neue Mittelschicht entstanden, die nicht mehr arm ist. Die legen sich jetzt den ersten Flachbildschirm-Fernseher oder das erste Auto zu. Das ist vergleichbar mit der Situation in Wirtschaftswunder-Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.
Ist Armut also nicht das drängendste Problem?
Fraundorfer: Brasilien ist eigentlich ein sehr reiches Land. Das Problem ist die Verteilung. Da ist Brasilien eines der ungerechtesten Länder der Welt mit einer kleinen Minderheit, die einen Lebensstil wie in Europa genießt und einer überbordenden Mehrheit, die sich kaum etwas leisten kann.
Unter Lula gab es die Hoffnung auf mehr Gleichheit. Sind die Leute jetzt frustriert?
Fraundorfer: Ja. Es gab im vergangenen Jahrzehnt dieses kleine Wirtschaftswunder, eine neue Schicht ist aufgestiegen. Seit 2011 Dilma Rousseff an die Regierung gekommen ist, wächst die Wirtschaft kaum noch, dafür ist die Inflation in den letzten Monaten auf bis zu sechs Prozent geklettert. Das drückt auf den Geldbeutel der Menschen.
Was können die Proteste bewirken?
Fraundorfer: Sie haben eine große Dynamik erreicht und können vieles in der brasilianischen Gesellschaft und Politik verändern. Von der historischen Bedeutung sind diese Proteste mit der 68er-Revolte in Deutschland zu vergleichen. Diese Protestbewegung kann ein Ideengeber für Veränderungen in der Gesellschaft und einen Bewusstseinswandel sein
Interview: Marc Kniepkamp