Umgang mit Geflüchteten in Griechenland: „Absurde Ausreden, um diese Menschen nicht zu retten“

Die Situation für Geflüchtete in Griechenland ist untragbar. Erik Marquardt (Grüne) erhebt starke Vorwürfe gegen die Praxis der EU-Kommission.
Sie haben am 22. Juni Aufnahmen getwittert, in denen ein Flüchtlingsboot vor Lesbos ins Meer hinausgezogen wird.
Menschen auf der Flucht, darunter viele Kinder, sitzen in einem Schlauchboot. Sie befinden sich offensichtlich in Seenot und haben Angst um ihr Leben. Die griechische Küstenwache hätte die Aufgabe, diese Menschen in Sicherheit zu bringen und ihnen Zugang zu rechtsstaatlichen Asylverfahren zu ermöglichen. Leider kommt sie dieser Aufgabe offenbar immer öfter nicht nach. Im Gegenteil, sie greift die Menschen an und versucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass sie die griechische Küste erreichen.
Was ist vorgefallen?
Ich selbst war im März auf Lesbos und habe dort mehrfach die Küstenwache angerufen, weil ein Schlauchboot in Seenot war. Das Schlauchboot befand sich sogar in Sichtweite der Küste. Jeder konnte sehen, dass diese Menschen in Gefahr sind und Hilfe brauchen. Aber alles, was ich zu hören bekam, waren absurde Ausreden, um diese Menschen nicht zu retten. Und all das, weil sie die „falsche Hautfarbe“ haben oder aus einem „falschen Land“ kommen. Machen wir uns nichts vor. Bei weißen Deutschen in einem Partyboot wäre sofort eine Rettung eingeleitet worden. Wir müssen auch über den gewaltigen Rassismus an unseren Außengrenzen reden.
Griechenland: „Sie ziehen Menschen in Richtung türkischer Gewässer“
Die griechische Küstenwache hat den Menschen auf dem Boot den Motor entwendet. Wie muss ich mir das vorstellen?
Naja, die fahren eben hin, lösen die Schrauben und nehmen ihnen den Motor weg, versenken ihn oder machen ihn kaputt. Berichte über solche Situationen häufen sich. Die griechischen Küstenwächter gingen in diesem Fall noch weiter. Sie haben den Menschen in dem Schlauchboot ja nicht nur den Motor weggenommen, sondern sie auch noch in Richtung türkischer Gewässer gezogen. Das ist ein ganz klarer Verstoß gegen See-, Völker- und Europarecht. Die Menschen treiben dann hilflos auf dem offenen Meer. Wenn ein Boot manovrierunfähig herumtreibt und nicht selbst den nächsten sicheren Hafen erreichen kann, ist es in Seenot, und man muss es retten. Auch wenn ein Boot so überladen ist, wie in diesem Fall, muss es eigentlich schnell gerettet werden. Es sind viele Menschen in solchen Situationen gestorben, weil das Boot von einem auf den anderen Moment kollabiert.
Warum verhält sich die Küstenwache so?
Ich glaube nicht, dass die Küstenwächter diese kriminelle Aufgabe ausführen, weil sie boshafte Menschen sind. Das wird auf politischer Ebene entschieden, und es ist wirklich menschenverachtend, wie die griechischen Verantwortlichen hier Menschenleben aufs Spiel setzen, nur damit keine Geflüchteten bei ihnen ankommen. Griechenland hat verdient, dass man sie besser unterstützt und dass die Herausforderung von Flucht und Migration in Europa solidarischer gelöst wird. Aber die Menschen in Not haben auch verdient, dass ihre Rechte und Würde von EU-Mitgliedstaaten geachtet und dass solche Angriffe geahndet werden.
Geflüchtete in Griechenland: „Unglücke und Menschenrechtsverletzungen sind schwer zu dokumentieren“
Woher hatten Sie die Aufnahmen?
Geflüchtete vernetzen sich in sozialen Netzwerken, und wenn es zu solchen Vorfällen kommt, versuchen sie regelmäßig, Geflüchtete in Griechenland, Familienangehörige und Hilfsorganisationen zu erreichen. Über ein paar Ecken landen solche Aufnahmen dann auch bei mir. Viele Leute sind überrascht, wenn man ihnen erzählt, dass die meisten Geflüchteten auf den Booten natürlich auch Smartphones, Facebook und Instagram haben. In der Ägäis gibt es Handynetz, weil die Türkei und die griechischen Inseln nur einige Kilometer auseinander liegen. Auf dem zentralen Mittelmeer, wo viele Menschen aus dem libyschen Bürgerkrieg fliehen, ist es anders. Da braucht man ein Satellitentelefon, das nicht alle haben. Deswegen sind die Unglücke und Menschenrechtsverletzungen auf dieser Fluchtroute schwerer zu dokumentieren.
Wie konnten die Menschen schließlich gerettet werden?
Die türkische Küstenwache hat einer Hilfsorganisation auf Lesbos gegenüber wohl bestätigt, dass sie in die Türkei gebracht worden sind. Wenn es so weitergeht, könnte es bald zu Toten kommen, denn eigentlich hat Erdoğan kein Interesse, dauerhaft das Spiel der griechischen Küstenwache mitzuspielen.
Erleben wir Rechtsbrüche an der Außengrenze der Europäischen Union?
Sie sind Mitglied der Grünen im Europaparlament. Wie ordnen Sie diese Ereignisse ein? Wir erleben die Rechtsbrüche an der EU-Außengrenze?
Das ist leider kein Einzelfall und es ist nicht so, dass es nur in Griechenland Probleme gibt. Weitgehend abseits der Öffentlichkeit und scheinbar ohne relevante Konsequenzen sind Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen Normalität geworden. Vor Malta sind Menschen ums Leben gekommen, weil die Regierung sie nach Libyen in den Bürgerkrieg zurückschicken wollte und sie tagelang nicht gerettet hat.

Gegen den Regierungschef Robert Abela wird nun ermittelt. Die maltesische Regierung rechtfertigt dieses Vorgehen mit dem Coronavirus, was absurd ist. Wir können doch nicht Menschen ertrinken lassen, weil sie ansonsten in eine komplizierte Corona-Situation kommen könnten. Man kann auch aus Seenot gerettete Personen zwei Wochen in Quarantäne bringen. Das Coronavirus* wird hier als Ausrede benutzt, weil man nicht möchte, dass Geflüchtete in Europa ankommen.
Das passt aber nicht gerade zu den Grundlagen der EU bezüglich Menschenrechte …
Griechenland führt systematisch illegale Push-Backs durch und bringt Menschen in der Ägäis in Lebensgefahr. An der EU-Außengrenze zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina werden Menschen systematisch misshandelt und illegal abgeschoben. Laut dem „Guardian“ haben kroatische Polizeibeamte Menschen nicht nur geschlagen, sondern ihnen auch eine Glatze rasiert und ein Kreuz auf ihre Köpfe gesprüht. Solche Fälle sind umfassend dokumentiert. Alle wissen, dass es passiert, aber wir haben leider auch in Europa ein Problem mit Desinformationskampagnen. In Griechenland haben der „Spiegel“ und andere sehr ausführlich dokumentiert, dass Anfang März zum Beispiel mit scharfer Munition auf Menschen geschossen wurde, eine Person starb. Statt den Vorwürfen nachzugehen und aufzuklären, hat die griechische Regierung das einfach als Fake-News bezeichnet, ohne Beweise vorzulegen. Das machen sie seit Anfang März regelmäßig.
Griechenland: „Die EU-Kommission weigert sich, Konsequenzen für diese EU-Rechtsverstöße zu ziehen“
Dagegen müsste doch die EU-Kommission vorgehen.
Die EU-Kommission weigert sich, Konsequenzen für diese EU-Rechtsverstöße zu ziehen und gegen die Mitgliedsstaaten vorzugehen. Wenn die Regierungen in Griechenland oder Kroatien einfach Fake-News rufen, wenn ihnen Berichte nicht passen, muss man sich auch entscheiden, ob man auf der Seite von Pressefreiheit und investigativem Journalismus steht, oder ob man auf der Seite derjenigen steht, die dann gegen die Presse hetzen und Grundrechte abschaffen wollen. Es ist auch im Parlament unangenehm, wenn man sich für Menschenrechte einsetzt.
Sprechen Sie aus eigener Erfahrung?
Als ich nach einem Besuch an der kroatischen Außengrenze im Plenum des Europäischen Parlaments von den Menschenrechtsverletzungen berichtete, stand die kroatische Abgeordnete Željana Zovko auf und behauptete, ich würde Lügen verbreiten. Dabei hatte ich doch mit meinen eigenen Augen gesehen, was dort geschieht. Wie die Misshandelten sich in Bosnien-Herzegowina auf einen weiteren Versuch, in die EU zu fliehen, vorbereiten. Es gibt Videos von Misshandlungen und Übergriffen. Viele Nichtregierungsorganisationen und die EU-Vertretung in Bosnien-Herzegowina wissen von den Praktiken. Und trotzdem wird man wüst beschimpft, wenn man es anspricht. Die kroatische Abgeordnete Zovko ist dabei aber keine Abgeordnete aus einer rechtsradikalen Fraktion, sondern Mitglied der EVP, zu der auch CDU und CSU gehören.
Wie kann das Europaparlament auf diesen Umgang reagieren?
Haben Sie dennoch mit griechischen Kolleg*innen aus dem Europaparlament über das Thema gesprochen?
Mit einzelnen kann man gut darüber reden, sie treibt das Thema auch um. Andere reagieren eher mit den Sprachregelungen aus dem griechischen Innenministerium, da muss man nicht viel reden, weil sie unabhängig von der Realität immer sagen, dass die griechische Regierung an der Grenze noch nie etwas falsch gemacht hat.
Wie muss das Europaparlament Ihrer Meinung nach auf solch einen Vorfall reagieren?
Wenn EU-Staaten so eklatant gegen Menschenrechte verstoßen, dann muss das Konsequenzen haben. Die Kommission sollte dagegen vorgehen und zur Not Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Solche Menschenrechtsverletzungen und der Bruch von EU-Recht dürfen nicht ungestraft bleiben, sonst machen wir uns als Institution doch lächerlich. Wie soll man dann noch irgendjemanden in der EU erzählen, es sei wichtig, sich an Recht und Gesetz zu halten, wenn jeden Tag wissentlich und willentlich an der EU-Außengrenze gegen geltendes Recht verstoßen wird.
Konkret?
Wir brauchen einen Monitoring-Mechanismus, der dafür sorgt, dass solche Menschenrechtsverletzungen zukünftig systematisch aufgedeckt werden. Frontex hat zum Beispiel die Pflicht, einige Dutzend unabhängige Menschenrechtsbeobachter einzustellen, um Menschenrechtsverstöße aufzudecken. Das muss beschleunigt werden. Derzeit wird diese Aufgabe vor allem von NGOs übernommen, aber die Kommission reagiert leider nicht öffentlich auf NGO- oder Medienberichte. Im Europäischen Parlament ist man sich der Problematik schon bewusst, wir versuchen nun mit den progressiven Fraktionen einen Untersuchungsausschuss einzurichten. (Interview: Katja Thorwarth)
Auch Hilfesuchende in überfüllten Lagern müssen vor dem Coronavirus geschützt werden. Die EU schaut weg – dabei wäre die Lösung einfach*.
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