Harsche Ukraine-Debatte: Illner und Militärexperte fahren SPD-Größe über den Mund - „Gerede!“

Die Friedensverhandlungen in der Türkei sind vorerst gescheitert. Putin setzt seinen Zerstörungskurs in der Ukraine fort. Illner sondiert die Möglichkeiten des Westens.
Berlin – Gerhard Schröder trifft in Moskau Wladimir Putin. SPD-Parteichef Lars Klingbeil will davon im Vorfeld nichts gewusst haben. Er sei „überrascht“ gewesen, meint Klingbeil im Polit-Talk bei Maybrit Illner*, sei der Idee eines solchen Treffens aber nicht abgeneigt. „Gesprächssituationen, die jetzt geschaffen werden“ seien etwas Vernünftiges. Das Ziel bei allen Unternehmungen sei, Putin zu einer Waffenruhe zu bewegen, „um diesen furchtbaren Krieg zu beenden“, so der SPD-Chef.
Sein CDU-Amtskollege Friedrich Merz ist da weniger optimistisch. Wie eine Situation zu schaffen sei, um mit „Putin wieder an einem Verhandlungstisch“ zu sitzen, dafür fehle ihm derzeit die „Fantasie“. „Dieser Mann ist inzwischen ein schwerer Kriegsverbrecher und das ganze System um ihn herum ebenfalls. Herr Lawrow auch.“ Putin werde einen Strafgerichtsbefehl vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag bekommen, führt Merz aus. Es sei „beklemmend“, wenn man höre, wie Putin von der „Entnazifizierung der Ukraine“ spreche - einem Land mit einem hohen Anteil an jüdischer Bevölkerung.
„Maybrit Illner“ - diese Gäste diskutierten mit:
- Lars Klingbeil (SPD) – Parteivorsitzender
- Friedrich Merz (CDU) – Partei- und Fraktionsvorsitzender
- Klaus von Dohnanyi (SPD) – ehemaliger Bundesminister, Abgeordneter und Erster Bürgermeister der Hansestadt Hamburg, zugeschaltet
- Katja Kipping (Die Linke) – Berliner Sozialsenatorin, zugeschaltet
- Prof. Carlo Masala – Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München
- Katja Gloger – Autorin des Stern, Verfasserin der Russland-Analyse „Putins Welt“
- Daniel Andrä – Kommandeur NATO-Einsatztruppe Litauen, zugeschaltet
Auch Illner ist skeptisch, ob im Ukraine-Konflikt* eine Annäherung an Putin noch zu einem Frieden führen kann. Sie fragt unumwunden: „Will Putin lieber eine kaputte Ukraine als eine neutrale Ukraine?“ Klingbeil will nicht ausschließen, dass Putin von Zerstörungswahn befallen ist: „Wir wissen heute, dass Putin“ bereits bei dem Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Moskau „schon entschieden war, in diesen brutalen Krieg zu ziehen.“ Klingbeil will auch mit dem „russischen Narrativ“ der Bedrohung durch eine angebliche „Nato-Osterweiterung“ aufräumen. Scholz habe diesbezüglich ein deutliches Signal in Moskau gesetzt. „Die Nato“, stellt Klingbeil klar, treffe „keinerlei Schuld“.
Ukraine-Krieg Thema bei „Illner“ im ZDF: Klingbeil warnt mit Militärexperte Masala
Militärexperte Carlo Masala stimmt zu und warnt ausdrücklich vor dem „Mythos, der von den Russen gesponnen wird, um zu sagen, sie werden konkret bedroht“. Dem würden auch hierzulande noch viele Glauben schenken. „Ein Beitritt“, so Masala, stand „nicht zur Debatte“. 2008 hätten Merkel und Sarkozy den Satz über einen Nato-Beitritt „rausverhandelt“. Die Nato habe Russland zugesagt, keine permanente substanzielle Präsenz zu halten, keine Nuklearwaffen zu halten und keine Nato-Militärbasen - und „sich bis heute daran gehalten“.
Masala verweist auf die aktuelle Staatsrede Putins kurz vor seinem Einmarsch in Ukraine, in dem er dem Nachbarland „ganz klar“, „Staatlichkeit“ und „Existenzberechtigung“ abgesprochen hatte. Masala: „Die ganze Nato-Geschichte ist eine Nebelkerze!“ Putin sei die „objektive Grundlage“ abhanden gekommen.
Maybrit Illner dreht Dohnanyi den Ton ab, als der über Diplomatie mit Russland doziert
Auch Merz stimmt zu. Es sei „ein Popanz“, der aufgebaut werde - denn „andersherum wird ein Schuh draus“. Wenn die Ukraine „aufgenommen“ worden wäre, mutmaßt Merz, „wäre es wahrscheinlich zu diesem Konflikt gar nicht gekommen!“ Er verweist auf die baltischen Staaten, die von Putin bislang nicht angegriffen* wurden. Merz: „Putin hat im Moment noch großen Respekt vor der Nato.“
SPD-Altmeister Klaus von Dohnanyi findet in der Runde keine Zustimmung, als er wie aus der Zeit gefallen doziert, es brauche jetzt eine „Haltung, die auf Frieden ausgerichtet“ sei, „auf Verhandlungen und Ausgleich“. Die Zukunft liege in der Diplomatie. Er zitiert den ehemaligen Bundeskanzler Willy Brandt*: „Außenpolitik soll eine Art Generalstabsarbeit am Frieden sein.“ Mehr kann Dohnanyi nicht sagen, Illner dreht dem 94-Jährigen mit einer spitzen Bemerkung den Ton ab: „Zu Brandts Zeiten gab es ein Verteidigungsbudget von vier Prozent!“. Dohnanyi bleibt verdutzt und stumm am Bildschirm zurück.
Masala bringt seinen Unmut „an diesem ganzen Gerede“ deutlich zum Ausdruck. Es sei ein Denkfehler, zu verlangen: „Wir müssen jetzt mit den Russen verhandeln!“. Es sei ein „paternalistisches Verständnis von internationaler Politik und der Souveränität der Staaten“, zu denken, die Ukraine sei eine „Spielmasse“ und Macron oder Biden könnten nun sagen: „Pass auf, Wladimir …!“ Masala unmissverständlich: „Die Ukraine ist das angegriffene Land“, „die Ukraine verhandelt. Wir unterstützen sie.“
Berliner Senatorin warnt vor der größten Flüchtlingsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg
Klingbeil lenkt den Fokus auf einen anderen Player im Weltgeschehen: „Wir unterstützen die Ukraine durch Druck, den wir gerade auch in Richtung China* deutlich formulieren“, meint der SPD-Mann. Der aufsteigende Staat sei „ein ganz wichtiger Akteur“, so Klingbeil, um „Putin zur Vernunft zu bringen“ und stellt unmissverständlich klar: „Wir reden hier von einer Situation, die uns nicht über Monate beschäftigen wird, sondern ich rede hier von Jahren“.
Was das bedeutet, schildert die Berliner Sozialsenatorin Katja Kipping. Die Hauptstadt werde von Flüchtlingen aus der Ukraine „überrollt“. Das sei eine Ahnung des künftigen Ausmaßes: „Wir stehen hier am Anfang der womöglich größten Fluchtbewegung seit Ende des Zweiten Weltkrieges.“ Illner fragt: „Braucht es ein Sondervermögen nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für die Flüchtenden?“ Klingbeil antwortet indirekt: „Wir werden an den Gaslieferungen festhalten“. Deutschland werde es nicht schaffen, die Sanktion über zwei, drei Jahre durchzuhalten. „Der soziale Frieden“ sei gefährdet. Ähnlich äußerte sich am Donnerstag auch Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) bei „Lanz“.
Fazit des „Maybrit Illner“-Talks
Putin habe seinen Krieg bereits „moralisch, ökonomisch und politisch verloren“, fasst die Journalistin Gloger bei Illner zusammen. „Sein Land, er selbst werden zu Ausgestoßenen der Geschichte werden.“ Doch bis dahin wird es dauern: „Freiheit gibt es nicht im Supermarkt“, ergänzt Merz. Wir befinden uns in einem Krieg, „den alle nicht gewollt haben“, so Klingbeil. (Verena Schulemann)