Blick von außen: Warum Deutschlands Osten Putin so sehr liebt

Russlands Desinformation hat die extreme Rechte und die extreme Linke in Deutschland verzaubert - gerade der Osten steht im Fokus.
- Deutschland Osten ist mittlerweile ein Zielgebiet für Russlands Desinformationskampagnen.
- Botschaften aus Moskau fallen bemerkenswerter Weise bei extremen Rechten wie auch Linken auf fruchtbaren Boden.
- Das Verhältnis zwischen Deutschlands Osten und Putins Russland erklärt diese Reportage ursprünglich einem englischsprachigen Publikum - und bietet damit Einblick auch für Leserinnen und Leser in Deutschland.
- Dieser Artikel liegt erstmals in deutscher Sprache vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn am 17. September 2023 das Magazin Foreign Policy.
Chemnitz/Washington, D.C. - Werner schwenkte enthusiastisch eine weiß-rot-blaue russische Trikolore mit dem Wappen der Zaren, als wir uns vor der ehemaligen Stasi-Zentrale der ehemaligen Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, in Ostdeutschland unterhielten. „Der gegenwärtige deutsche Staat ist schlimmer als der zu kommunistischen Zeiten, und Amerika, nicht Putin, ist das wahre Übel dieser Welt“, sagte er und stieß mir aggressiv den Finger ins Gesicht, während die riesige Marx-Statue unserem Gespräch lauschte.
Man könnte meinen, ein pensionierter Maurer in seinen 70ern wie Werner wäre mit dem Alter reifer geworden. Er ist alt genug, um in den 1980er Jahren kurz von der Stasi verhört worden zu sein und sich an seinen Vater zu erinnern, einen ehemaligen Nazi-Soldaten, der in den 1950er Jahren zerzaust aus sowjetischer Gefangenschaft zurückkehrte. Doch all das hat weder seine offensichtliche Sympathie für den russischen Imperialismus noch seine Wut auf den Westen eingedämmt.
„Freie Sachsen“ finden seltsame Gemeinsamkeiten mit Putins Russland
„Die deutsche Wiedervereinigung kam nur den Westdeutschen zugute, und Deutschland sollte uns Sachsen in Ruhe lassen“, sagte er. „Deutschland sollte auch Putin in Ruhe lassen, denn es war im Zweiten Weltkrieg viel schlimmer für Russland, als Putin es jetzt für die Ukraine ist.“
Das ist die Bewegung „Freie Sachsen“. Werner hat an jeder Montagskundgebung der rechtsmonarchistischen Sezessionsbewegung teilgenommen, die das Königreich Sachsen wiederherstellen will - das während seines 112-jährigen Bestehens, das mit dem Ersten Weltkrieg endete, historisch gesehen nie viel Gewicht über seine eigenen Grenzen hinaus hatte. Und wie ein Großteil der deutschen politischen Randgruppen findet sie seltsame Gemeinsamkeiten mit Putins Russland.
Der russische Präsident hat Einfluss auf die ostdeutsche Haltung gegenüber Russland genommen, seit er Mitte der 1980er Jahre als junger KGB-Agent zum ersten Mal nach Dresden, der sächsischen Landeshauptstadt, kam. Sein Auslandseinsatz in Ostdeutschland fand am 5. Dezember 1989 ein jähes Ende, als Demonstranten die Stasi-Zentrale besetzten. Eine weitere Menschenmenge stürmte das nahegelegene KGB-Büro, wo Wladimir Putin eine unmittelbare Begegnung hatte, als die Protestierenden kurz davor waren, das Gebäude zu stürmen. Seine anschließenden Rufe an die Rote Armee um Schutz und Verstärkung wurden mit Schweigen beantwortet - was Putin nie verziehen oder vergessen hat.
Putin stößt auf dem Gebiet der früheren DDR immer noch auf offene Ohren
In seinem vielleicht berühmtesten Zitat sagte Putin 2005 vor dem russischen Parlament, der Zusammenbruch der UdSSR sei die „größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“. Für ihn war es eine Erfahrung der persönlichen Demütigung. 1990 kehrte er mit seiner jungen Familie in seine Heimatstadt Leningrad, das heutige St. Petersburg, zurück. Dort musste Putin nach eigenen Angaben als Taxifahrer über die Runden kommen, bevor er einen lukrativeren Job als Präsident und manchmal auch als Premierminister Russlands bekam.
Doch fast 40 Jahre später stößt er auf dem Gebiet des ehemaligen sowjetischen Satellitenstaats immer noch auf offene Ohren. Eine merkwürdige Allianz von Elementen aus dem gesamten politischen Spektrum hat hier Sympathie oder Unterstützung für seinen Einmarsch in die Ukraine bekundet. Einer im Oktober 2022 durchgeführten Umfrage zufolge glauben 40 Prozent der Deutschen ganz oder teilweise, dass die Nato Russland zum Einmarsch in die Ukraine provoziert hat; in den Regionen, die einst Teil des kommunistischen Ostdeutschlands waren, steigt diese Zahl auf 59 Prozent. Sachsen ist das bevölkerungsreichste Bundesland Ostdeutschlands.
In seinem Rachefeldzug gegen den Westen hat Putin versucht, die westlichen liberalen Demokratien und den euro-atlantischen Pakt zu untergraben, indem er destabilisierende politische Kandidaten förderte und lokale separatistische Gruppen unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung unterstützte. Russische Desinformationskampagnen wurden unter anderem mit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten, den Unabhängigkeitsreferenden in Schottland und Katalonien und dem Brexit in Verbindung gebracht. Hier in Chemnitz scheint es, als ob Sachsen als Nächstes auf der Liste steht.
Sachsen will „gute Beziehungen zu Russland“: „Keine Waffen für die Ukraine“
Auf einem Campingtisch, der neben Werner aufgebaut war, riefen politische Broschüren und Aufkleber zu einem Bündnis zwischen Sachsen und Russland auf. Es gab Fahnen des historischen Königreichs Sachsen und Aufrufe zum „Säxit“: Weitgehende Autonomie von Deutschland oder sogar die Abspaltung Sachsens à la Brexit.
Die Freien Sachsen, die sich zwar nominell mit regionalem Sezessionismus beschäftigen, bieten eine breite Kirche der pro-russischen Stimmung, die auf unterschiedliche Weise Rechtsextreme, Sowjetnostalgiker und marginalisierte Anti-Regierungsverrückte vereint, die über alles Mögliche schimpfen, von Impfstoffen über 5G bis hin zum Krieg in der Ukraine.
„Sachsen hatte schon immer eine andere öffentliche Meinung als der Rest. Wir wollen gute Beziehungen zu Russland. Keine Waffen für die Ukraine“, sagte Michael Brück, ein Sprecher der Freien Sachsen, der den Ukraine-Krieg als einen Krieg zwischen „slawischen Völkern“ betrachtet, in dem Deutschland nichts zu suchen hat: „Die Menschen hier halten Selensky für einen Schauspieler, einen Verbrecher und eine Marionette der USA. Putin ist sein Gegenstück. Er stellt sich gegen den US-Imperialismus. Die meisten Menschen hier sind gegen die USA. Hier in Sachsen erinnern sich die Menschen an die Bombardierung Dresdens. Für die Menschen hier sind die Amerikaner Kriegstreiber“.
Nach Trump und Brexit: Auch Sachsen wird zu Russlands Ziel
Diese Geschichte und die jahrzehntelange wirtschaftliche Entbehrung haben in Sachsen die Saat des Dissenses und sogar des Radikalismus gesät. Bemerkenswerterweise war es ein Mitglied des sächsisch-thüringischen Adels, der 2022 einen Putschversuch in Deutschland plante. Prinz Heinrich XIII. Reuss schloss sich den Reichsbürgern - einer rechtsextremen Bewegung zur Wiederbelebung des Kaisertums - an und versuchte, die Regierung zu stürzen.
Das Komplott wurde im Dezember aufgedeckt, als Staatsanwälte 25 Reichsbürger verhaften ließen, darunter Reuss sowie aktuelle und ehemalige Mitglieder des Sicherheitsdienstes. Der Putsch wurde wegen seiner grandiosen Ambitionen und seines Scheiterns auf der Stelle verspottet. Aber er war eine ernüchternde Erinnerung an das Wiedererstarken der deutschen extremen Rechten und ihre offensichtliche Bereitschaft, revolutionäre Gewalttaten zu begehen. Die Ermordung von zwei Polizeibeamten im Januar 2022 wurde ebenfalls mit den Reichsbürgern in Verbindung gebracht, während im April 2022 ein Mitglied der Reichsbürger versuchte, mehrere Polizeibeamte zu töten, als diese versuchten, einen Durchsuchungsbefehl wegen illegalen Waffenbesitzes zu vollstrecken. Der Rädelsführer, Reuss, soll den russischen Nationalfeiertag 2022 im russischen Generalkonsulat in Leipzig gefeiert haben.
Wie Russland es mit der Trump-Kampagne und dem Brexit getan hat, ist Sachsen zu einem Ziel für pro-russische Nachrichten und Fehlinformationen geworden, die in einer Post-Truth-Medienlandschaft gedeihen. „Niemand glaubt den [Mainstream-]Medien hier. Wenn die deutschen Medien sagen, dass es morgen sonnig sein wird, ziehen wir Sachsen unsere Regenmäntel an. Deshalb wenden sich die Menschen Telegram zu“, einer in Russland und der Ukraine weit verbreiteten Social-Media-Plattform, erklärt Freie-Sachsen-Sprecher Brück.
RT abgeschaltet: Russland schwenkt auf Influencer um
Seit der von der Regierung erzwungenen Abschaltung des Senders Russia Today (RT) in Deutschland haben sich Kreml-Sympathisanten auf unabhängige Medien und Influencer mit russischem Bezug eingestellt. „Anti-Spiegel“, eine Anspielung auf das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel, wird von Thomas Röper betrieben. Einem deutschen Blogger, der in St. Petersburg lebt und ein kremltreu mit Desinformationen, Verschwörungstheorien und russischer Propaganda hausiert. Russische Medienberichte werden auch für ein deutsches Publikum übersetzt und veröffentlicht. Er hat 110.000 Telegram-Abonnenten.
Eine weitere deutsche Bloggerin, Alina Lipp - eine ehemalige deutschsprachige Korrespondentin für RT - spielt eine wichtige Rolle bei der Verbreitung russischer Propaganda für ihre 196.000 Telegram-Abonnenten. Ihre reichweitenstärksten Beiträge werden Berichten zufolge über zwei Millionen Mal aufgerufen.
Ihre Botschaften finden ihre Wirkung. Im Februar veröffentlichte das in Berlin ansässige Center for Monitoring, Analysis, and Strategy (CeMAS) eine Studie über die Rolle russischer Desinformation in Deutschland und stellte fest, dass zwischen Frühjahr und Herbst 2022 die Zustimmung zu pro-russischen Propagandanarrativen vor allem im Osten deutlich zunahm.
AfD auf dem Höhenflug - Partei hat eine große Schwäche für Putins Kreml
Putins Desinformationskrieger sind zeitgleich mit dem Aufstieg antitechnokratischer Bewegungen auf beiden Seiten der ideologischen Kluft aufgetreten - ein Segen für diejenigen in Moskau, die den zentristischen Konsens, der die deutsche Politik seit Jahrzehnten dominiert, destabilisieren wollen. Die rechtsextreme AfD hat ihre durchschnittlichen Umfragewerte innerhalb eines Jahres verdoppelt und reitet auf einer Welle der populistischen Empörung über Einwanderer und Energiepreise. Die AfD, deren Delegationen gelegentlich Moskau besuchen, will die EU auflösen, die nationale militärische Eigenständigkeit Deutschlands auf Kosten des deutschen NATO-Engagements stärken und alle Sanktionen gegen Russland aufheben.
Jüngste bundesweite Umfragen sehen die AfD mit 22 Prozent vor der regierenden Sozialdemokratischen Partei und nur noch hinter der konservativen Christlich-Demokratischen Union mit 27 Prozent. In mehreren östlichen Bundesländern liegt die AfD in den Umfragen über 30 Prozent und hat ein Bürgermeisteramt und einen Landratsposten erobert.
Wie viele andere Parteien im Osten hat auch die AfD eine große Schwäche für den Kreml. Ein Landtagsabgeordneter, Hans-Thomas Tillschneider, gründete einen Verein namens Ostwind, der sich um engere Beziehungen zu Russland bemüht. Ende letzten Jahres versuchte er, die von Russland besetzten Gebiete in der Ostukraine zu besuchen, bevor selbst die AfD-Führung vor der Optik zurückschreckte. Tillschneider hat schon früher gesagt, dass Russland im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten Deutschland im Zweiten Weltkrieg befreit hat.
Putin gegen das US-Regenbogenreich: Die extreme Rechte liebt diese Art von Gerede
„Es gibt immer noch Zehntausende amerikanischer Soldaten, die unser Land besetzen“, sagte er und bezog sich dabei auf die US-Truppen, die dort seit Jahrzehnten als Teil der Nato-Verteidigung gegen eben jenes Russland stationiert sind. „Die USA wollen uns zu Spielfiguren auf dem ukrainischen Schlachtfeld machen, um ihr ‚Regenbogen-Reich‘ zu vergrößern.“
„Beide Seiten picken sich ihre Argumente aus der russischen Desinformationskampagne heraus“
Die deutsche extreme Rechte liebt diese Art von Gerede. Aber auch die deutsche Linke ist mit von der Partie und meint, der Feind ihres Feindes sei ihr Freund. Das Bündnis für den Frieden in Brandenburg veranstaltet Mahnwachen zu linken Empörungsthemen wie dem Bombenangriff auf Hiroshima 1945 oder NATO-Atomübungen und setzt sich gegen westliche Waffenlieferungen an die Ukraine ein. Dominik Mikhalkevich, der in Belarus geborene Sprecher des Bündnisses, sagte, NATO-Übungen seien eskalierend und Deutschlands Verteidigungsauftrag solle nur dem Schutz des eigenen Territoriums dienen.
„Sanktionen gegen Russland sollten fallen gelassen werden, denn Sanktionen spielen immer in die falschen Hände“, sagte Michalkewitsch. „Ich komme aus Weißrussland, einem Land, in dem westliche Sanktionen immer das Gegenteil von dem bewirkt haben, was sie eigentlich erreichen sollten, wie die Tatsache zeigt, dass Lukaschenko immer noch im Amt ist.“
Russlands Fehlinformationen sprechen extreme Rechte und Linke an
Ähnlich wie in den Vereinigten Staaten besteht der besondere Trick bei den russischen Fehlinformationen darin, dass es ihnen gelingt, sowohl die extreme Rechte als auch die extreme Linke anzusprechen. Deutsche Rechte lieben - und zitieren - Russlands Klagen über die angebliche ukrainische Unterdrückung russischsprachiger Menschen im Osten und Süden des Landes und seine angebliche Verteidigung der weißen, christlichen europäischen Kultur, sagt Jakub Wondreys vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden. Doch zu Russlands Behauptungen, die Ukraine „entnazifizieren“ zu wollen, schweigen sie aus offensichtlichen Gründen merkwürdigerweise.
Die Linke ahmt derweil gerne Putins Anti-Nato-Rhetorik nach, übersieht aber seinen sozialen Konservatismus. „Beide Seiten picken sich ihre Argumente aus der russischen Desinformationskampagne heraus“, so Wondreys.
Aber die deutsche Linke, gespalten in Putin-Anhänger und -Gegner, befindet sich im freien Fall. Es ist die Rechte, die im Aufwind ist. Ein Sieg der AfD bei den nächsten Parlamentswahlen im Jahr 2025 könnte Deutschland in ein großes Ungarn verwandeln, meint Wolfgang Muno, Politikwissenschaftler an der Universität Rostock. Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orbán ist Russlands trojanisches Pferd in der Europäischen Union. Es unterstützt Moskau und blockiert Brüssels Bemühungen, Sanktionen zu verhängen oder sich von russischer Energie zu lösen.
„Wir können sehen, was passiert, wenn Putin-Lakaien in Ungarn regieren“, sagte Munro. Sollte die AfD in eine Regierungskoalition eintreten, so Munro, würden Sanktionen gegen Russland und vielleicht auch umfangreiche deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine, wie etwa Leopard-Panzer, auf der Kippe stehen, und Putin würde eine Rettungsleine bekommen.
Zu den Autoren
Jens Kastner ist ein in Deutschland lebender Journalist.
Jack Hewson ist ein britisch-irischer Journalist und Filmemacher, der sich auf Geopolitik, Konflikte und Aufstände spezialisiert hat. Twitter (X): @jack_s_hewson
Wir testen zurzeit maschinelle Übersetzungen. Dieser Artikel wurde aus dem Englischen automatisiert ins Deutsche übersetzt.
Dieser Artikel war zuerst am 17. September 2023 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung.
