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Presse: „Ukrainer beweisen ihre Fähigkeit zum friedlichen Machtwechsel“

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Internationale Pressestimmen zur Ukraine-Wahl
Mit 73 Prozent  zum ukrainischen Präsidenten gewählt: Wolodymyr Selenskyj. © picture alliance/dpa / Sergei Grits

Es war ein Erdrutschsieg für Wolodymyr Selenskj, mit dem der Schauspieler Petro Poroschenko  als Präsident ablöst. Wir haben die internationalen Pressestimmen zur Ukraine-Wahl für Sie zusammengestellt.

Am Sonntag gewann Wolodymyr Selenskyj (41) die Wahl zum Präsidenten der Ukraine. Ohne jegliche Vorerfahrung aus Politik oder Wirtschaft besiegte er seinen Vorgänger Petro Poroschenko mit 73 Prozent der Wählerstimmen. Der Schauspieler, der bereits in einer TV-Serie „Diener des Volkes“ die Rolle des Präsidenten spielte, hat seine Fernsehrolle nun zur Realität gemacht. Die ukrainische Bevölkerung erwartet sich viel von dem 41-Jährigen, der sich während seines Wahlkampfs sehr volksnah präsentierte. Abzuwarten bleibt, wie er sein Land und die Beziehung zum großen Nachbarn Russland tatsächlich verändern kann. Darüber spekulierte wenige Tage nach der Wahl auch die internationale Presse, die die Situation in der Ukraine analysierte und zu teils unterschiedlichen Erkenntnissen kam. Wir haben die Pressestimmen für Sie zusammengefasst. 

Ukraine 

„Ukrajina Moloda“ aus Kiew:

„Wie das eine oder andere Problem gelöst werden soll, ist bislang unbekannt. Denn bisher bleiben die Fragen der Parlamentsarbeit, der Gesetzentwürfe zur Sprache und zur Amtsenthebung des Präsidenten offen. Denn eine Arbeit der parlamentarisch-präsidialen Republik ohne Mehrheit in der Obersten Rada kann jeglichen Versuch des neugewählten Präsidenten zunichte machen, wenn er Gesetzentwürfe einbringen will. Daher sollte man darauf achten, ob die Parlamentarier schnell die Farbe wechseln und zum Team des neugewählten Präsidenten 'überlaufen'.“

Russland 

„Rossijskaja Gaseta“ aus Moskau:

„Selenskyj hat sich aufgemacht, um dem Teufelskreis der diebischen Eliten ein Ende zu setzen. Aber er will auch das Wunder vollbringen: eine geeinte politische Nation zu strahlenden Wirtschaftshöhen führen. Doch es bleibt eine Kleinigkeit: Der neue Präsident verkörpert nur diese Erwartungen und die Versprechen auf ein besseres Leben. Aber sie müssen auch umgesetzt werden. Und hier wird das gewählte Staatsoberhaupt der Ukraine und ihre Bevölkerung bald mit der harten Realität konfrontiert werden. Denn diese wurde von Selenskyjs Vorgängern aufgebaut. Ganz zu schweigen von der Finanzwelt und dem politischen System, von denen die Ukraine im ganz großen Ausmaß abhängig ist.“

„Nesawissimaja Gaseta“ aus Moskau:

„Moskau sollte versuchen zu verstehen, wie Selenskyj überhaupt gewinnen konnte - vor allem, wenn wir auch nur ansatzweise Beziehungen zur neuen ukrainischen Macht aufbauen wollen. Die Wirtschaft der Ukraine steckt in einer tiefen Krise. Gleichzeitig hat Selenskyj weder ein starkes Wirtschaftsteam noch ein Programm hinter sich. Im Wahlkampf machte er kaum konkrete Aussagen. Es könnte also sein, dass die Ukrainer einfach einen „Anti-Poroschenko“ wählen wollten. Es könnte auch sein, dass die Menschen auch einfach nur für Frieden und eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland gestimmt haben. Und es könnte tatsächlich sein, dass das mit Selenskyj kommen könnte. Aber da muss er erst mal liefern. Und Moskau muss diese politische „Message“ richtig interpretieren.“

Deutschland 

„Münchner Merkur“: 

„Ohne jegliche administrative Führungserfahrung soll der 41-Jährige eine mächtige Präsidentenbürokratie führen – und außerdem übergroße Erwartungen seiner Wähler erfüllen. Ein 73-Prozent-Sieg klingt schön, ist aber eine enorme Hypothek, denn bei der vor ihm liegenden Mammutaufgabe hilft er ihm wenig. (...) Sehr viel wird natürlich vom Stab seiner Berater abhängen, die in dem nach wie vor höchst korrupten Land beileibe nicht immer dem Gemeinwohl verpflichtet sein müssen. Den seit 2014 besonders geschundenen Ukrainern und dem Rest Europas kann man nur wünschen, dass Selenskyj bei seinem großen Auftritt genügend positive Überraschungen bieten kann“ (zum kompletten Kommentar auf Merkur.de*).

"Leipziger Volkszeitung": 

"Die gute Nachricht ist: Trotz des Krieges und der Armut in ihrem Land beweisen die Ukrainer ihre Fähigkeit zum friedlichen Machtwechsel. Das ist das Verdienst der Wähler, die in Scharen zur Wahl gegangen sind. Mit dem raschen Eingeständnis seiner Niederlage und dem Angebot zur Zusammenarbeit hat auch Präsident Petro Poroschenko seinen Anteil am geordneten Übergang. Die Ukrainer haben gezeigt, dass Wahlen unvorhersehbare Wendungen nehmen können. Das klingt banal. Doch der Blick nach Russland zeigt, dass offene Wahlen in der Region nicht selbstverständlich sind."

"Frankfurter Allgemeine":

"Angela Merkel trifft den um seine Wiederwahl kämpfenden Petro Poroschenko, Emmanuel Macron will offenbar besonders ausgewogen erscheinen und bittet auch den Komiker und Politneuling Selenski zu sich. Sinnvolle Beiträge zur Lösung des Konfliktes, den die Russen der Ukraine aufgezwungen haben, waren bei den Treffen nicht zu erkennen. Aber welche Botschaft senden Merkel und Macron an die Wahlberechtigten in der Ukraine? Stand etwa jemals in Zweifel, dass Berlin und Paris auch mit dem neuen Präsidenten eng zusammenarbeiten würden? Will Macron dem Komiker den Ernst des Politikerlebens nahebringen? Verwirrung gibt es in der Ukraine wahrhaftig genug. Da hätte es dieser seltsamen Wahlhilfe nicht bedurft."

"Märkische Oderzeitung" aus Frankfurt:

"Der Oligarch und Schoko-Milliardär Poroschenko ist zu sehr Teil des Oligarchensystems geblieben, das er zu bekämpfen vorgegeben hatte. Die Menschen haben ihm nichts mehr abgenommen. Die Kluft zwischen der etablierten politischen Klasse einerseits und den meisten Ukrainern andererseits war so groß geworden, dass diese bereit waren, auf eine politische Wundertüte zu setzen, die vor allem die eine Hoffnung verkörpert: dass es so nicht weiter geht."

"Kölner Stadt-Anzeiger":

"Den Ausschlag für Selenskyjs Wahl gab die Rolle des integren Staatsmanns, den er im Fernsehen mimt. Die TV-kompatible Darbietung von Macht schien den Ukrainern ein hinreichender Kompetenznachweis fürs höchste Amt im Staate zu sein. Das meinten auch schon die US-Wähler, als sie den TV-Show-Boss Trump zum Präsidenten wählten. Fiktion und Wirklichkeit scheinen zu verschwimmen."

"Straubinger Tagblatt": 

"Von Euphorie ist fünf Jahre nach der Revolution ohnehin nichts mehr zu spüren. Jeder ist besser als Poroschenko - dieser Leitsatz bestimmte die Wahlen. Ein wirkliches Programm hatte Selensky nicht zu bieten. Dass der Neue durchregiert und das Land tiefgreifend verändert, dürfte auch daran scheitern, dass er im Parlament über keine Mehrheit verfügt."

"Stuttgarter Zeitung":

"Selenskis Sieg ist ein Risikofaktor ersten Ranges für Frieden und Stabilität im Osten Europas. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass Putin und seine Kreml-Strategen schon diverse Planspiele durchgegangen sind, wie sie die Wahl eines blutigen Amateurs an die ukrainische Staatsspitze für ihre Zwecke nutzen können. Die Palette der Möglichkeiten dürfte dabei von einem bloßen Warten auf Fehler über gezielte Störmanöver bis hin zu einer Intensivierung der militärischen Konfrontation im Osten der Ukraine reichen."

USA

„Washington Post“ aus Washington D.C.: 

„Während wir noch nicht wissen, welche Art Präsiden Selenskyj sein wird, ist bekannt, welchen Typ Präsidenten sich die ukrainischen Bürger wünschen. Meinungsumfragen zeigen, dass die Ukrainer drei Dinge von ihrem Präsidenten fordern. Zuallererst, wollen sie einen Staatsmann, der sich gegen die russischen Aggressionen auflehnt und die ukrainische Souveränität wiederherstellt. Zweitens, wollen sie einen Reformer, der mit einem Rammbock gegen das oligarchische System vorgeht, das Politik und Wirtschaft der Ukraine korrumpiert. Zum Schluss, forden sie jemanden, der den wirtschftlichen Wachstum stärkt, Löhne erhöht und Jobs schafft. (...) National wird Selenskyj dazu ein Parlament und eine Gesellschaft brauchen, die gewillt sind, Reformen zu unterstützen. (...) Außerdem braucht Selenskyj auch die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. (...) Der Westen muss seine slebstdiagnostizierte „Ukraine-Erschöpfung“ ablegen und seine „Abwarten, was kommt“-Einstellung gegen eine proaktive strategische Politik eintauschen, die das Miliär sowie Anti-Korruptions-Maßnahmen und wirtschaftliche Reformen unterstützt.“

Österreich

"Die Presse" aus Wien: 

"Mit Selenskij, falls er gewählt wird, kaufen die Ukrainer also die Katze im Sack. Gut, er hat um sich einen Beraterstab mit politisch erfahrenen Fachleuten zusammengestellt - nur weiß man nicht, ob er auch auf diese Experten hört oder ob er doch eher dem Rat seiner Einsager aus der Unterhaltungsbranche folgen wird. Poroschenko hatte schon recht, als er darauf hinwies, dass es da ein politisch unerfahrener Komiker mit einem mit allen (Geheimdienst-)Wassern gewaschenen, ausgefuchsten russischen Präsidenten zu tun haben wird. (...) Man kann dem großen Land nur wünschen, dass seinen Menschen nicht bald das Lachen vergehen wird."

Schweiz

"Neue Zürcher Zeitung":

"Die Gefahr besteht, dass sich Selenski in dieser ungünstigen Machtposition zwangsläufig in die Abhängigkeit von anderen politischen Kräften begeben wird - unklar ist nur, von welchen. Mit dieser Wahl, so drückte sich ein ukrainischer Publizist aus, kauft das Volk die Katze im Sack, wobei Selenski nur der Sack ist und der Inhalt erst später zum Vorschein kommt. Die Ukraine lässt sich auf ein riskantes Experiment ein, aber immerhin spricht viel dafür, dass sie auch unter dem künftigen Präsidenten an ihrem prowestlichen Kurs festhalten wird."

Niederlande

„de Volkskrant“ aus Amsterdam:

„Die wichtigste Frage ist jedoch, ob Selenskyj dem russischen Präsidenten Putin gewachsen sein wird. Dieser hofft, dass er im Austausch für Investitionen in die angeschlagene ukrainische Wirtschaft den Komiker dazu verleiten kann, eine Abmachung über den Status des Donbass zu treffen, einem Gebiet, in dem die Separatisten die Macht haben. Auf diese Weise hofft Moskau, von den Sanktionen loszukommen, die westliche Länder 2014 gegen Russland verhängt haben. Im Gegensatz zu Putin, mit dessen Namen bereits mehrere krumme Militäroperationen verbunden sind, verfügt Selenskyj über keinerlei militärische oder diplomatische Erfahrung. Es besteht die Gefahr, dass er sich von dem abgebrühten Kremlbewohner hinters Licht führen lässt.“

Belgien 

„De Tijd“ aus Brüssel: 

„Selenskyj ist vor allem an die Macht gekommen, weil die Ukrainer die bisherige Regierung satt hatten. Es gab mehr „Gegen“-Stimmen sowie Stimmen für „Veränderungen“, ohne dass diese Veränderungen konkret erläutert wurden. Die Ukraine ist für Europa von strategischer Bedeutung. Das Land hat erhebliche Spannungen zwischen Russland und Europa ausgelöst. Eine neue Führung und ein Durchbruch auf diesem Gebiet wären willkommen. Es ist jedoch nicht sicher, dass dies auch wirklich geschieht. Sicher ist derzeit nur, dass das Land einen großen Sprung ins Ungewisse wagt. Es bleibt abzuwarten, wie die Landung verläuft.“

Spanien

„El Periódico“ aus Madrid:

„Der Komiker (Selenskyj) hat den Kampf gegen die Korruption zum Leitmotiv seines Wahlkampfes gemacht. Und diese Botschaft hat am Ende die Mehrheit der Wähler überzeugt. Sie wollten lieber einen Mann an der Macht haben, der mit seiner politischen Unerfahrenheit und mit seiner Absicht prahlt, das System zu zerstören, als dass Petro Poroschenko wiedergewählt wird. Dieser hat während seiner Amtszeit gezeigt, dass er unfähig ist, die Korruption zu bekämpfen und den Konflikt mit Russland zu lösen. Für eine unzufriedene Gesellschaft war Kontinuität keine Option.“

Polen 

„Fakt“ aus Warschau:

„Das Ergebnis der Wahl in der Ukraine hat nicht nur für dieses Land Bedeutung. Es erinnert die westlichen Staaten daran, warum Demokratie so wichtig ist. Das Recht, nicht geschätzte Staatschefs abzuwählen, ist ein sehr wichtiges Instrument. Wir haben es in unserer Hand. In manchen Ländern fehlt es. Wir sollten es deshalb schätzen.

Freie, ehrliche und offene Wahlen sind auch ein starkes Signal an Russland. So agieren freie Menschen. Die Russen können nur von dem Tag träumen, an dem sie sich der Freiheit erfreuen können. Einer Freiheit, die die heuchlerische Propaganda ihrer politischen Führung so verachtet.“

„Gazeta Wyborcza“ aus Warschau:

„Das Ergebnis der ukrainischen Präsidentenwahl hat die Erwartungen Moskaus nicht erfüllt. Dort hatte man sich auf eine „massenhafte Wahlfälschung“ und einen Skandal in Kiew eingestellt. (...) Größere Schwierigkeiten als der neue unberechenbare Führer eines für Russland wichtigen Landes dürfte Moskau aber der exakt funktionierende Mechanismus der ukrainischen Wahlen bereiten.

Kremlkritische demokratische Oppositionelle, die in sozialen Medien laut hörbar sind, wiederholen, dass sich die Ukrainer auf friedliche Weise von einem Präsidenten getrennt haben, der sich „verbraucht hat und von dem sie genug hatten“. Und das bringt auch die Russen auf sündige Gedanken. Denn wie die Umfragen zeigen, hat sich auch dort der Präsident zunehmend verbraucht.“

Bulgarien

„Sega“ aus Sofia:

„Ein weiteres politisches Erbeben in der Ukraine ist Tatsache nach der Stichwahl um das Präsidentenamt. (.) Die Beobachter in Kiew prognostizieren, dass nach Selenskyjs Sieg stürmische Zeiten für die Ukraine kommen werden. Sein Sieg kann das ohnehin zerbrechliche politische System mächtig erschüttern. Es kann zu vorgezogenen Wahlen, zu einer Verfassungsreform mit Umverteilung der Macht und sogar zu neuen Straßenprotesten kommen. Wolodymyr Selenskyj zeigt sich als Befürworter des Weges der Ukraine in Richtung EU, signalisiert aber auch Bereitschaft für Kompromisse mit Russland.“

Tschechien 

„Lidove noviny“ aus Prag:

„In einem Land, das unter dem Konflikt mit Russland, weit verbreiteter Korruption und einer miserablen wirtschaftlichen Lage leidet, ist der Erfolg Selenskyjs keine so große Überraschung. Für die Ukrainer ist seine Wahl freilich ein riskantes Lotteriespiel, denn es ist unklar, wer alles (außer dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj) im Hintergrund die Fäden zieht. Doch die Auswahl unter den Kandidaten war nicht groß. (...) Eines ist in jedem Fall sicher: Selenskyj wird politische Allianzen schmieden müssen, die freilich seinen Reformschwung stark bremsen oder sogar zum Stillstand bringen könnten.“

dpa/spz

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