Putin-Killerkommando angeblich in Europa unterwegs - Verdacht auf Vergiftungen
Russland scheint mit Giftanschlägen gegen Kreml-Kritiker und kritische Journalisten vorzugehen. Nach Vergiftungssymptomen ermittelt in mehreren Fällen das FBI.
Moskau - Russland könnte seit Beginn des Ukraine-Krieges in mehreren Fällen Giftanschläge ausgeführt haben, um Kreml-Kritiker einzuschüchtern. Das unabhängige russische Nachrichtenportal Agentsvo berichtet von möglichen Attentatsversuchen Russlands auf die Leiterin einer amerikanischen NGO und einen ehemaligen US-Botschafter in der Ukraine. Außerdem seien kremlkritische Journalisten womöglich vom russischen Geheimdienst überwacht und unter Druck gesetzt worden.

Giftanschlag aus Russland? NGO-Leiterin berichtet von Vergiftungssymptomen
Agentsvo beschreibt zwei mutmaßliche Fälle von russischen Giftanschlägen. Sie sollen sich im Frühjahr 2023 ereignet haben. Natalia Arno, die Leiterin der „Free Russia Foundation“, einer gemeinnützigen Organisation mit Sitz in den USA, die sich für ein freies demokratisches Russland einsetzt, sei bei einer Europareise mutmaßlich Opfer eines russischen Giftattentats geworden, schreibt das Nachrichtenportal.
Arno selbst hatte in einem Beitrag in den sozialen Medien von dem möglichen Giftattentat berichtet: „Es besteht der Verdacht, dass ich während meiner letzten Reise nach Europa vergiftet wurde, möglicherweise durch einen Nervenkampfstoff, der von einem westlichen Geheimdienst untersucht wurde, ich habe immer noch Neuropathiesymptome, aber insgesamt geht es mir viel besser“, zitiert das US-amerikanische Nachrichtenportal Daily Beast die Aktivistin.
Arno engagiert sich für die Förderung von Demokratie, Menschenrechten und Freiheit in ihrem Heimatland Russland und in Eurasien. Im Jahr 2014 hatte sie die „Free Russia Foundation“ gegründet, um Bemühungen demokratiefreundlicher Russen zu bündeln. Die Organisation berät westliche politische Entscheidungsträger und unterstützt Aktivisten, die von der russischen oder belarussischen Regierung verfolgt werden.
Putin-Agenten unterwegs: FBI ermittelt wegen mutmaßlichem russischen Giftattentat
Arno habe bei einem Aufenthalt in Tschechien Anfang Mai diesen Jahres ein starkes Unwohlsein verspürt, berichtet Agentsvo unter Berufung auf Gespräche mit persönlichen Bekannten der NGO-Chefin. Sie habe sich für ein vom Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski organisiertes Treffen russischer Oppositioneller in Prag aufgehalten. Dort habe sie Taubheitsgefühle in ihrem Körper und Schmerzen in verschiedenen Körperteilen verspürt. Kurz bevor die Symptome aufgetreten seien, habe Arno festgestellt, dass die Tür zu ihrem Hotelzimmer offen gestanden habe und ein seltsamer Geruch im Zimmer herrschte, ähnlich dem „Aroma von billigem Parfüm“, erzählte ein Bekannter dem russischen Nachrichtenportal.
Am nächsten Morgen sei Arno dann zurück in die USA geflogen, wo sie seit zehn Jahren lebt. Dort sei sie ins Krankenhaus gegangen, da die Symptome nicht nachgelassen hätten und habe die staatlichen Behörden informiert. Das FBI habe dann eine Untersuchung eingeleitet und Kleidung und andere Gegenstände, die Arno bei ihrer Reise dabei hatte, zu Untersuchungszwecken mitgenommen. Über das Ergebnis der Untersuchungen konnte Agentsvo nach eigenen Angaben jedoch keine weiteren Informationen erhalten.
In dem Zeitraum des Prager Treffens habe auch eine russische Journalistin, die kürzlich ihre Heimat verlassen hatte, an gesundheitlichen Problemen gelitten, wie Agentsvo weiter berichtet. Die Journalistin habe sich an die Berliner Charité gewandt, wo auch der russische Oppositionsführer Alexej Nawalny nach einem Giftattentat und einer Nowitschok-Vergiftung behandelt worden war.
Vorwürfe gen Kreml: Ehemaliger US-Botschafter mutmaßlich von Russland vergiftet
Diese Vorfälle scheinen nicht die einzigen gewesen zu sein: Noch mindestens einen weiteren mutmaßlichen Giftanschlag soll Russland seit 2020 unternommen haben. John Herbst, ehemaliger US-Botschafter in der Ukraine, soll in den Monaten vor dem russischen Angriff auf die Ukraine Vergiftungssymptome gehabt haben. Das FBI habe damals eine Untersuchung zur starken Verschlechterung von Herbsts Gesundheitszustand eingeleitet, erzählten Bekannte dem russischen Nachrichtenportal. Herbst arbeitet heute als leitender Direktor des „Eurasian Center“ bei der amerikanischen Denkfabrik „Atlantic Council“.
Diese hat am Dienstag (16. Mai) in einer Pressemitteilung bestätigt, dass Herbst im April 2021 erkrankt war und Symptome gezeigt habe, die auf eine Vergiftung hindeuten können - darunter erhöhte Giftstoffwerte in seinem Blut. Mediziner hätten Herbst behandelt, hätten jedoch „nicht eindeutig auf eine Vergiftung schließen“ können. Die amerikanischen Strafverfolgungsbehörden hätten auch eine Blutprobe von ihm entnommen, die Laborergebnisse hätten allerdings keine toxischen Verbindungen nachgewiesen.
Sorge vor Putins Leuten: Kremlkritischer Investigativjournalist womöglich Zielscheibe
Nicht nur Giftanschläge, sondern auch Einschüchterungsversuche soll Russland seit Beginn des Ukraine-Krieges gegen seine Kritiker einsetzen. Autoritäre Staaten gehen auch jenseits ihrer Staatsgrenzen gegen ihre vermeintlichen „Feinde“ vor. Wie mehrere Informanten Agentsvo berichteten, sei im Sommer 2022 auf einer Journalistenkonferenz zum Thema Russland in Montenegro in das Hotelzimmer des Investigativjournalisten Hristo Grozev eingebrochen worden. Grozev arbeitet seit 2015 für das Journalistenkollektiv Bellingcat und war an mehreren bedeutenden Recherchen beteiligt, unter anderem zu russischen Giftattentaten. Durch die Investigativrecherchen konnten etwa die Attentäter des Giftanschlags auf Nawalny und des Giftmordanschlags gegen Sergej und Julia Skripal identifiziert werden.
Bei der Durchsuchung von Grozevs Hotelzimmer im Sommer 2022 könnten Hacker auf Informationen in den persönlichen Geräten des Journalisten zugegriffen haben, sagte ein Bekannter Agentsvo. Grozev ist durch seine russlandkritische Arbeit nach eigener Ansicht längst zur Zielscheibe des Kreml geworden: Anfang Februar sagte er der österreichischen Zeitung Falter, dass er nicht in seine Wahlheimat Wien zurückkehren werde, in der er fast 20 Jahre lang gelebt hatte. Er habe „mehrere Warnungen von verschiedenen Strafverfolgungsbehörden in Europa erhalten“. Es gebe klare Beweise dafür, dass sein Leben in Gefahr sei. „Ich vermute, dass es in der Stadt mehr russische Agenten, Spitzel und Handlanger gibt als Polizisten“, sagte Grozev dem Falter.
Der russische Geheimdienst hat in der Vergangenheit wiederholt Giftattentate auf russische Oppositionelle und Kreml-Kritiker ausgeführt. Zuletzt hatte der Giftanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im August 2020 für Aufsehen gesorgt. Die Berliner Charité, die ihn behandelte, hatte bei ihm den Nervenkampfstoff Nowitschok festgestellt. Zuvor waren bereits der russische Ex-Spion Sergej Skripal und dessen Tochter Opfer eines russischen Giftmordanschlags geworden. Auch der ehemalige russische Geheimdienstmitarbeiter Alexander Litwinenko war im Auftrag des FSB 2006 mittels einer radioaktiven Substanz getötet worden. Zuletzt soll die russische Oppositionspolitikerin Elvira Vikhareva seit Ende 2022 vergiftet worden sein. (kasa)