Syrien: Hat Assad die Fäden noch in der Hand?

Damaskus - Massenfestnahmen, Folter und Scharfschützen: Das syrische Regime drangsaliert die Demonstranten. Die Menschen in den belagerten Städten sind verzweifelt. Die Spitzen des Regimes haben offensichtlich auf stur geschaltet.
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Der Geheimdienst ist in Syrien so allgegenwärtig, dass viele Regimegegner in ihren Wohnzimmern erst die Musik aufdrehen, bevor sie ein kritisches Wort äußern. Trotzdem will das Regime der Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit weismachen, in mehreren Städten hätten sich jetzt islamistische Terrorzellen formiert, die plötzlich Jagd auf die zum Schutz der Bevölkerung ausgeschwärmten Angehörigen der Sicherheitskräfte machen.
So weit die offizielle Darstellung der blutigen Unruhen, die nach Schätzungen von Menschenrechtlern schon mehr als 450 Menschen das Leben gekostet haben. Dass die westlichen Regierungen dieser Version keinen Glauben schenken, zeigt sich in ihren Reaktionen. Syrische Botschafter wurden einbestellt, Sanktionen angedroht.
Doch die verzweifelten Menschen in Daraa, Duma und anderen belagerten Ortschaften, in denen Ärzte festgenommen und Demonstranten erschossen wurden, können damit wenig anfangen. “Sanktionen helfen uns nicht“, schrieb ein Aktivist am Donnerstag in einem Internet-Forum der syrischen Protestbewegung. “Wir wollen, dass Hilfsorganisationen und ausländische Beobachter hierherkommen“.
Blutige Proteste in Syrien
Die syrische Führung unter Baschar al-Assad, die einer Verurteilung durch den UN-Sicherheitsrat gerade entgangen ist, denkt jedoch gar nicht daran, einzulenken. Nach Informationen der Opposition will die regierende Baath-Partei an diesem Freitag sogar große Pro-Assad-Demonstrationen organisieren.
Auf Forderungen und Ratschläge befreundeter Staaten reagiert die Führung in Damaskus nicht. Eine Delegation der türkischen Regierung, die am Donnerstag nach Syrien geflogen war, um Assad Vorschläge für Reformen zu unterbreiten, reiste wortlos - und nach Einschätzung von Beobachtern auch erfolglos - wieder ab.
Ribal al-Assad, ein Cousin des Präsidenten, der seit seiner Kindheit im Exil lebt und sich für Reformen in Syrien einsetzt, wirft unterdessen die Frage auf, ob Baschar al-Assad überhaupt noch Herr der Lage ist. Der Präsident solle sich von seiner korrupten Entourage lossagen, sagte der Cousin in einem Interview mit der algerischen Zeitung “Al-Khabar“. Zu dieser Clique gehörten unter anderem der Geschäftsmann Rami Machluf und der frühere Verteidigungsminister Mustafa Tlass. “Ihm bleibt nur noch eine Option: Er sollte sagen: “Ich habe getan, was ich konnte, aber diese Gruppe, die mich umgibt, ist stärker als ich, das Volk muss mir jetzt helfen.““
Diese Länder haben Atomwaffen
Dass sich inzwischen schon etliche Offiziere der Armee von Assad abgewandt haben und dass Soldaten aus der Unruheprovinz Daraa ihre Waffen abgeben mussten, wie die Opposition behauptet, streitet das Regime ab. Die Berichte über den Parteiaustritt von 230 Baathisten aus dem Gebiet Hauran und aus der Region Banias ignorieren die staatlichen Medien bisher völlig.
Auch auf der Ebene der Provinzräte und in den staatlichen Medien soll es schon vereinzelte Rücktritte gegeben haben. Über die Soldaten, die in den vergangenen Tagen als “Märtyrer“ und “Opfer bewaffneter Terrorbanden“ beigesetzt worden waren, sagt die Opposition, diese seien von Angehörigen der regimetreuen Republikanischen Garden erschossen worden, weil sie sich geweigert hätten, auf Demonstranten zu schießen.
Noch ist die Zahl der Parteimitglieder und Offiziere, die dem Regime den Rücken kehren, gering. Viele arabische Beobachter machen sich aber trotzdem jetzt schon Gedanken darüber, wie sich ein möglicher Regimewechsel in Syrien auf die regionale Gemengelage auswirken könnte. Der größte Verlierer wäre in diesem Fall wohl die pro-iranische Schiiten-Bewegung Hisbollah und ihre Verbündeten im Libanon, die von Syrien bisher politisch und beim Schmuggel von Waffen unterstützt wurden. Die Hisbollah und der Iran sind derzeit auch die einzigen Akteure in der Region, die Assad immer kritiklos noch die Treue halten.
Von Anne-Beatrice Clasmann