Ägypten: 150 Tote - Mubarak harrt aus

Kairo - Chaos in Ägypten. Bei den Unruhen starben bis Sonntag mindestens 150 Menschen. Regimegegner wurden von Räubern und Plünderern abgelöst. Die Angst bei Ausländern wächst.
Nach der politischen Revolte droht Ägypten in Anarchie zu versinken: Plünderer, Brandstifter und Räuber terrorisieren die Bevölkerung in vielen Landesteilen. Bis Sonntag starben 150 Menschen bei den Unruhen. Aus Gefängnissen brachen - mit Hilfe von außen - tausende Insassen aus, darunter Schwerverbrecher und islamistische Extremisten.
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Dem seit 30 Jahren regierenden Präsidenten Husni Mubarak gelang es auch mit Medienzensur, einer Fernsehansprache und einer neuen Führungsriege nicht, die Massenproteste gegen ihn zu stoppen. Am Samstag gingen wieder Zehntausende Regimegegner in mehreren Städten auf die Straßen, um die Ablösung Mubaraks zu fordern, der auch international immer stärker unter Druck gerät. Am Sonntag, dem sechsten Tag der Proteste, versammelten sich ebenfalls wieder Menschen im Zentrum Kairos. Der greise Präsident hält an seinem Amt fest und versprach in seiner Ansprache “neue Schritte hin zu mehr Demokratie“ und eine Verbesserung des Lebensstandards.
Am Samstag ernannte er Geheimdienstchef Omar Suleiman zu seinem Stellvertreter. Der auch in den USA und Israel geschätzte General wird schon länger als möglicher Nachfolger des 82-jährigen Staatschefs gehandelt. Das neue Kabinett wird von Geheimdienst und Militär dominiert. Der frühere Luftwaffenstabschef Ahmad Schafik ist neuer Ministerpräsident. Das Militär löste vielerorts die Polizei ab, die mit den Massenprotesten überfordert und brutal gegen Demonstranten vorgegangen war.
Soldaten sicherten Regierungs- und Behördengebäude in großen Städten mit Panzern, am Sonntag rückte die Armee auch in Teile der Touristenregion Scharm el Scheich am Roten Meer ein. Abseits großer Plätze versuchten die Menschen mit Bürgerwehren, sich dem kriminellen Mob entgegenzustellen, der Geschäfte und Geldautomaten plünderte, Hotels verwüstete, Häuser anzündete und selbst die berühmte Antikensammlung des Ägyptischen Museums nicht verschonte.
Hier sollen sogar Wachpersonal und Polizisten beteiligt gewesen sein. Unter Ausländern wächst die Furcht vor dem Chaos. Angesicht der unsicheren Lage versuchen Hunderte Ausländer, die Millionenstadt Kairo zu verlassen. Einige Staaten begannen damit, ihre Staatsbürger aus dem Krisenland auszufliegen. Deutschland zunächst nicht: Man beobachte die Entwicklung genau, hieß es aus dem Auswärtigen Amt in Berlin. Auf dem internationalen Flughafen von Kairo warteten am Sonntag Tausende vor dem Chaos geflüchtete Ausländer auf eine Chance zur schnellen Abreise. Viele Deutsche machten sich aus Außenbezirken Kairos auf den Weg in Richtung des Stadtteils Zamalek, der als Insel im Nil liegt und deswegen von der ägyptischen Armee besser geschützt werden könnte.
Dort liegen auch zahlreiche Botschaften und ausländische Stiftungen. Im Großraum Kairo lebten vor Beginn der Unruhen schätzungsweise 5000 bis 7000 Deutsche. Laut deutschem Reiseverband sollten bis Sonntagabend alle Kunden deutscher Reiseveranstalter die Hauptstadt Kairo verlassen haben. Die Armee nahm bei Einsätzen gegen Plünderer rund 450 Menschen fest. Allein in den Städten Alexandria und Ismailija hätten Soldaten mehr als 250 Kriminelle festgesetzt, berichtete der arabische Nachrichtensender Al-Arabija am Sonntag. Sie sollen vor Militärgerichte kommen. Trotz nächtlicher Ausgangssperre griffen Kriminelle selbst Krankenhäuser an und raubten sie aus. Deutschland, Frankreich und Großbritannien riefen die ägyptische Regierung und die Demonstranten zum Gewaltverzicht auf.
In einer gemeinsamen Erklärung forderten Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und der britische Premierminister David Cameron den 82-jährigen Mubarak auf, einen Transformationsprozess einzuleiten hin zu einer “Regierung, die sich auf eine breite Basis stützt, sowie freien und fairen Wahlen“. Die USA machten ihrem wichtigen Verbündeten Ägypten deutlich, dass es mit dem Regierungswechsel nicht getan sei. US-Präsident Barack Obama Barack drängte Mubarak zur Umsetzung der Reformversprechen. “Ich habe ihm gesagt, dass er die Verantwortung hat, seinen Worten eine Bedeutung zu geben“, sagte Obama in Washington. Zudem drohte das Weiße Haus Einschnitte bei der milliardenschweren Hilfe für Kairo an. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon Ban rief auf dem Gipfeltreffen der Afrikanischen Union zu Besonnenheit, Gewaltlosigkeit und Einhaltung der Menschenrechte in Ägypten auf.
Der in Kairo unter Hausarrest stehende Friedensnobelpreisträger Mohammed el Baradei rief Mubarak zum Rücktritt auf. Eine Regierungsumbildung sei nicht genug. Der frühere Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA war erst am Donnerstag nach Ägypten zurückgekehrt und gilt vielen als Hoffnungsträger. Die ägyptische Führung in Kairo versucht weiter, unabhängige Berichterstattung über die Ereignisse zu behindern. Das Büro des arabischen Fernsehsenders Al-Dschasira in Kairo wurde am Sonntag von ägyptischen Behörden geschlossen. Bereits am Freitag waren die Internetverbindungen und Mobilfunkverbindungen in Ägypten gekappt worden. Handys funktionierten ab Samstag wieder teilweise.
dpa