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„Keine Ahnung, wie der Krieg hier aussieht“: Ukrainische Soldaten beurteilen Nato-Training teils kritisch

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Beim Ukraine-Durchbruch an der Südfront spielte eine von der Nato ausgebildete Brigade wohl eine große Rolle. Die Soldaten bewerten das Training jedoch durchwachsen.

Kiew – Die Ukraine kann bei ihrer seit Juni laufenden Gegenoffensive weitere Fortschritte vermelden. Nach erfolgreichen Angriffen auf wichtige Stellungen von Russlands Armee auf der Krim durchbrachen die Ukrainer in der vergangenen Woche die Verteidigungslinie bei der Ortschaft Werbowe.

Die sogenannte „Surowikin-Linie“ stellte bisher eine große Herausforderung für das Vorankommen der Gegenoffensive dar. Experten sehen sie als Gradmesser, an dem sich die Anstrengungen der Ukraine messen lassen müssen, wenn sie aufgrund erschöpfter Ressourcen und des Wintereinbruchs zum Erliegen kommen.

Das ukrainische Nachrichtenportal The Kyiv Indepedent schreibt jetzt der von der Nato trainierten 47. Mechanisierten Brigade eine entscheidende Rolle in diesem Durchbruch zu. Die Nato-Ausbildung – unter anderem in Deutschland, Lettland und der Slowakei – stoße jedoch bei den Soldaten auf ein gemischtes Urteil.

Ukrainischer Soldat mit Drohne
Ukrainischer Soldat mit Drohne.jpg © IMAGO/Kirill Chubotin / Avalon

Brigade für Gegenoffensive gebildet – jetzt gelang ihr Vorstoß im Ukraine-Krieg

Die 47. mechanisierte Brigade gilt als fortschrittliches Zukunftsmodell der ukrainischen Armee und hat den Vorstoß südlich von Orichiw offenbar angeführt. Hauptziel des Vorstoßes sind nach wie vor die strategisch wichtigen Städte Tokmak und Melitopol.

Die Brigade wurde vor rund einem Jahr für die ukrainische Gegenoffensive aufgestellt und in Nato-Staaten ausgebildet. Mit überlegener Ausrüstung sollten die Soldaten die Speerspitze des Vormarsches bilden. Von allen Gebieten, in die die ukrainischen Streitkräfte seither vorgedrungen waren, galt das anvisierte Gebiet als das wichtigste und am besten verteidigte: Der angegriffene Verteidigungsgürtel besteht aus Minenfeldern, Schützengräben, Panzerabwehrgräben und Betonsperren. Nach einer langen Periode zermürbender Kämpfe und viel Kritik gelang der 47. Brigade zusammen mit anderen Einheiten jetzt der langersehnte Vorstoß.

Der Hauptarchitekt der neuen Brigade war Valerii Markus, ein 30-jähriger Unteroffizier des damaligen 47. Schützenbataillons. Er wurde im Oktober 2022 von Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj eingeladen, gemeinsam mit dem Bataillonskommandeur Ivan Schamalaha die Brigade zu gründen.

Dank seiner Bekanntheit als junges, progressives Gesicht der ukrainischen Armee sollte Markus eine neue Welle von Freiwilligen anziehen. „Die Brigade hatte ein öffentliches Image als ein Ort, an dem man nicht nur im klassischen Sinne kämpft, sondern mit dem Kopf, mit Idealen, mit moderner Technologie und mit intelligenten Menschen“, erklärte einer der Soldaten gegenüber The Kyiv Independent. Auch das in Aussicht gestellte Nato-Training wirkte anziehend.

Nato-Training für Ukraine-Krieg stößt bei Soldaten auch auf Kritik

Die Bewertung des Nato-Trainings fiel bei den Soldaten der Brigade und der anderen Einheiten jedoch gemischt aus. Ein Soldat, der in Lettland ausgebildet wurde, äußerte sich sehr positiv. „Die Letten waren großartige Ausbilder“, sagte er. „Sie haben uns Schritt für Schritt geführt, vom grundlegenden Verständnis, was Krieg ist, bis hin zum Gebrauch von Waffen und Granaten, das Programm hat mir wirklich gefallen, es war immer interessant.“

Andere Bewertungen des Nato-Trainings fielen kritischer aus. Viele Soldaten der ukrainischen Armee bemängelten laut dem Bericht, dass die Kurse die Soldaten nicht angemessen auf den ukrainischen Grabenkrieg ohne Luftüberlegenheit vorbereitet hätten.

Kritik an Nato-Training für Ukraine-Krieg: „Keine Ahnung, wie der Krieg hier aussieht“

„Was mir an der Ausbildung nicht gefallen hat, ist, dass die Amerikaner keine Ahnung haben, wie der Krieg hier aussieht“, sagte ein Soldat. „Sie geben uns Übungen, bei denen wir auf ein Gebäude klettern, mit einer Stinger einen Hubschrauber abschießen und uns an Seilen wieder abseilen müssen. Wir haben gesagt: Seid ihr verrückt geworden? Alle Gebäude werden von Panzern und Bomben aus der Luft in die Luft gesprengt, sobald wir drin sind.“

Einige Soldaten erklärten gegenüber The Kyiv Independent, dass das Nato-Training sie auf einen Krieg vorbereitet hätte, den es in der Ukraine so nicht gebe. Die Nato-Offiziere würden die Realität vor Ort nicht verstehen. Die Nato-Kriegsführung sehe massive vorbereitende Luftangriffe, Artilleriebeschuss und Minenräumung vor, bevor die Infanterie zum Einsatz komme.

Nato-Training ukrainischer Soldaten: Bedingungen in Ukraine-Krieg teils nicht beachtet?

Die Realität während der ukrainischen Gegenoffensive sei jedoch eine andere: Angesichts der derzeit nur kleinen Luftwaffe des Landes, der alten T-64-Panzer und des anhaltenden Mangels an Artilleriegeschützen und Infanteriefahrzeugen sei es oft die Infanterie, die gegen die Verteidigungslinie der russischen Armee vorgehen müsse. Russlands Truppen wiederum würden von einer überwältigenden Artillerie und einer großen Zahl von Drohnen unterstützt.

Die ukrainischen Truppen berichteten zudem, dass es für sie teils schwierig sei, die Kleingruppentaktik der Nato-Einheiten anzuwenden, da es dafür oft keine ausreichende Deckung gebe. Deswegen weiche die Armee zunehmend von Nato-Taktik ab.

Ein anderer Soldat erklärte, dass die Ausbilder in Deutschland großen Wert auf die Ausbildung im Häuserkampf legten. Es fehlte jedoch die Vermittlung von Fähigkeiten, wie man den Feind aus dem Schützengraben zwingt, eine Angriffsgruppe aufstellt und diese mit Artillerie- und Drohnenunterstützung koordiniert. Die Art der Gefechte in der Ukraine sei eine Mischung aus den Grabenkämpfen des Ersten Weltkriegs und der Technik und Taktik des 21. Jahrhunderts.

Soldaten äußern Kritik an Nato-Training – Experte hält es für „unverzichtbar“

Der pensionierte US-Generalmajor Gordon Davis erklärte gegenüber The Kyiv Independent, die Ausbildung durch die Nato-Verbündeten sei im bisherigen Ukraine-Krieg dennoch „unverzichtbar“ gewesen. Dass bestimmte Taktiken, die die verbündeten Ausbilder vermittelten, möglicherweise nicht die von den Ukrainern erwarteten Ergebnisse erbracht hätten, habe vielschichtige Gründe. Die Soldatenausbildung im Ausland sei jedenfalls immer noch besser, als das Training, das die Ukraine momentan selbst anbieten könne. Es erfordere enorme Investitionen, die russischen Taktiken in der Ausbildung nachzuahmen.

Die von der Nato ausgebildete 47. Brigade musste sich laut dem Bericht beim Angriff auf die Surrowikin-Linie erst auf die Situation einstellen. Mangelnde Kampferfahrung und Ausbildungsdefizite ließen die mit Bradley- und Leopard-2-Panzern ausgerüstete Brigade zunächst scheitern.

Was wie ein selbstmörderischer Panzerangriff auf die ersten Minenfelder aussah, lieferte Wladimir Putin und den russischen Medien bald Bilder von zerstörten Leoparden und Bradleys. Im Internet verbreiteten sich schnell erschreckende Drohnenaufnahmen von Soldaten und Ausrüstung, die von Landminen in die Luft gesprengt wurden.

Ukrainer erlitten gegen Russland erst herbe Rückschläge, dann gelang Durchbruch

Die Ukrainer verfolgten die ersten Rückschläge aufmerksam, analysierten ihre Fehler und gewannen an Kampferfahrung. Mitte August war die 47. Brigade wieder auf dem Vormarsch, und diesmal begann sie, wirkliche Erfolge zu erzielen: Der Durchbruch durch die Surrowikin-Linie war der lang ersehnte Erfolg an der Südfront.

Dieser muss nun ausgebaut werden. Der erfolgreiche Angriff sei zwar ein Erfolg, aber „kein taktischer Durchbruch“, sagte der Militärexperte Franz-Stefan Gady dem Spiegel. Dazu müssten die Ukrainer jetzt auch die Flanken und Höhen um das Dorf Werbowe sichern. Die Offensive, so die Einschätzung des Experten, nähere sich ihrem Höhepunkt. Es sei fraglich, ob die Ukraine nach monatelangen Kämpfen noch Reserven habe, um einen nennenswerten Erfolg zu erzielen. (papel)

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